Religion heute

24. Dezember 2023

Die Religion des Menschen – Tagores Gedankenwelt

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Der Gott des Menschentums ist vor die Tore der zerstörten Stammestempel gekommen

„Die Religion des Menschen“ – Eine Begegnung mit Rabindranath Tagores Gedankenwelt

  1. Hinführung

Als reife Gestalt seines immer neuen Nachdenkens über die religiöse Erfahrung gab Rabindranath Tagore (1861-1941) mit seinem Buch „Die Religion des Menschen“ aus dem Jahr 1931 (deutsch 1962), noch einmal Kunde von dem, was ihn ein Leben lang inspirierte. Dieses Werk ging hervor aus seinen Hibbert-Lectures in Oxford im Jahr 1930. Tagores gesamtes Wirken als Dichter, Erzähler, Dramatiker, Komponist, Erzieher, Sozialreformer und dabei philosophierender Zeitgenosse ist durchdrungen von einer durch und durch persönlichen Verbindung von Natursinn, tiefer Musikalität und echtem religiösem Geist. Er führt uns ein in die Hallen einer von universalem Bewusstsein bestimmten Spiritualität, die getragen ist von Güte, Liebe und Freude. Tagore ist ein Meister darin, die besten Saiten der menschlichen Seele anzuschlagen und in vielen den Jubel des Seins auszulösen.

Tagore ist die große Stimme Bengalens, ja des indischen Subkontinents. Seine Lieder, weit mehr als 2000, sind tief eingedrungen in den Geist seines Volkes. Er, der Goethe Indiens, wurde zum Autor zweier Nationalhymnen, der Indiens und der Bangladeshs. Er gilt noch immer als die Stimme Asiens, seit er 1913 überraschend den Nobelpreis für Literatur für seine in englische Prosa übersetzten bengalischer Lieder in dem Werk „Gitanjali“ erhielt.

Immer wieder begegnen uns Sentenzen Tagores bis in das Evangelische Gesangbuch hinein. Aber ein Blick auf das innere Gefüge seiner Gedankenwelt wird selten geworfen. Im Wiederlesen seiner Werke „Die Religion des Menschen“ und „Sadhana“ darf ich Sie heute in meine Begegnung mit Tagore mitnehmen. Es kann dabei nur ein erstes Tasten in eine ferne, faszinierende und doch so nahe Welt sein.

  1. Die Musik des Lebens

Beginnen will ich mit dem Eröffnungsgedicht aus Gitanjali: „Du hast mich nicht enden wollend erschaffen, dir zum Wohlgefallen. Wieder und wieder leerst du dies zerbrechliche Gefäß, und füllst es stets mit neuem Leben. Über Hügel und Täler hast du diese zierliche Flöte aus Schilfrohr getragen und ihr mit deinem Hauch ewig neue Melodien entlockt. Unter der unsterblichen Berührung deiner Hand sprengt mein kleines Herz freudig seine Grenzen und gebiert unsagbare Worte. Deine unendlichen Gaben empfange ich allein mit meinen ach so kleinen Händen. Zeitalter vergehen, doch der Strom deiner Gaben hält an, und noch immer gibt es Raum zum Füllen“ (Gi, 21), so in der Übertragung aus dem Englischen von Axel Monte, während die Schlusszeile in der Übertragung von Marieluise Gothein lautet: „immer ist Raum, um erfüllt zu werden.“ (HL, 7) – womit?

Das Gedicht wendet sich an Gott. ER ist der Dichter des Lebens. ER stimmt die Musik des Lebens an. Der Sänger Tagore ist eine der Flöten, durch die ER die Noten des Lebens zum Klingen bringt. Unendlichkeit bildet den Horizont. Die Ewigkeit ist Ziel. Der Weg ist Jubel.

Man kann, man darf sich „das Weltall nicht so irrsinnig vorstellen, daß Verlangen ein unendlicher Gesang ohne Finale sein sollte“, führt Tagore in der „Religion des Menschen“ (RM, 127) aus und meint „Die letzte Freiheit des Geistes … liegt jenseits aller Grenzen der Persönlichkeit, … Sie ist das reine Bewußtsein des Seins, die letzte Wirklichkeit, die von Glückseligkeit unendlich durchstrahlt wird“ (RM, 125 bliss).

Und die Musik? Musik, der Rhythmus der Harmonien, ist ihm „der unmittelbarste Ausdruck der Schönheit. Ja, wir empfinden die Offenbarung des Unendlichen in den endlichen Formen der Schöpfung selbst als Musik, als stumme, sichtbare Musik. Der Abendhimmel, der unermüdlich seine Sternbilder wiederholt, … der Geruch des feuchten Grases und der nassen Erde… alles sind Töne … Es ist seine Freude selbst, die darin nie endend Gestalt annimmt. Es ist das Herz aller Herzen selbst, das sich in Musik durch das All ergießt. In jedem einzelnen Ton dieser Musik ist eine Vollkommenheit, die die Offenbarung des Vollkommenen im Unvollkommenen ist.“ (Sa, 111ff).

„Es ist die Aufgabe des Menschen, die Musik des Geistes mit allen Noten, die er in seiner seelischen Anlage besitzt, zu erzeugen, und die durch Unaufmerksamkeit und Perversität nur zu leicht ein furchtbarer Mißklang werden können“ (RM, 84). Alle unsere Fähigkeiten und Leidenschaften sind „Noten, die an der falschen Stelle falsch klingen. Unsere Erziehung soll sie in Akkorde zusammenfügen, die mit der großartigen Musik des Menschen (Man) zusammenklingen können“ (RM, 83). Rhythmus, Harmonie, das heißt für Tagore vor allem wechselseitige Beziehungen, a consciousness of inter-relationship (RM, 92), in einem ontologischen Basissatz dahin formuliert: „Die Wirklichkeit gründet nicht in der Substanz der Dinge, sondern in der wesenhaften Beziehung“ (RM, 88).

  1. Die Religion des Menschen

Und die Religion? Was sollte sie anderes sein als der Lobgesang des Alls aus dem Munde derer, in denen Gott sich eine endliche Wohnstäte schafft. In der „Religion des Menschen“ gibt Tagore eine weit gefasste Darstellung seiner Sicht der Religion. Das Buch besteht aus 14 Kapiteln und einer kurzen Conclusion. In 3 Bögen lässt sich das Werk in einem ersten Gang gliedern: Die ersten 5 Kapitel geben eine Sicht auf das weite Feld der Religionsgeschichte und suchen darin ein Grundverständnis der Religion aller Zeiten aufzustellen. Dieser Gang findet im 5. Kapitel mit einer Würdigung Zarathustras, als des ersten Propheten eines universalen Verständnisses des Menschen seinen Ziel- und Höhepunkt. Der zweite Bogen umfasst die Kapitel 6 bis 10, die nun ganz bestimmt sind von der Wiederholung des zuvor Vorbereiteten durch seine Prüfung an und weitere Erhellung in der persönlichen religiösen Erfahrung des Dichters Tagore. Das 6. Kapitel, überschrieben „Die Schau“, ist das zentrale Kapitel schlechthin, und man könnte sich ganz darauf konzentrieren. Dafür steht auch, dass Tagore bei einem Vortrag in Marburg im selben Jahr 1930 wie die Hibbert-Lectures im Wesentlichen genau dieses Kapitel als die Summe seiner Religionsauffassung dargeboten hat. Dieser Vortrag „Meine Religion“ wurde von Rudolf Otto zeitnah zum 70.Geburtstag des Dichters veröffentlicht in einem kleinen Büchlein „Rabindranath Tagore´s Bekenntnis“. Die Kapitel 7 bis 9 stellen, darauf aufbauend, die darstellende Dimension des religiösen Geistes dar, die zu gestaltende Verinnerlichung, der Sinn von Feier, Fest, Kunst und Musik und endet im 10. Kapitel mit einer Zusammenfassung unter dem Titel „Die Natur des Menschen“, die zugleich auch den ersten Bogen mit umgreift. Das Finale der Ausführungen bis hierher bilden Gedanken Laotses, eines der großen maßgebenden Menschen in der Sicht Tagores. Der Schlussgang mit den Kapiteln 11-14 und dem Beschluss zeigt dann exemplarisch auf, was die indische Überlieferung aber auch Tagores Schulprojekt in Santiniketan für die Begegnung von Ost und West fruchtbringend einbringen könnten. Mehrere äußerst wertvolle Anhänge (wie zu den Baül-Sängern Bengalens und indischen Mystikerpoeten) runden das Buch ab.

Ausgehend von Kapitel 10 lassen sich die Grundelemente der religiösen Anthropologie Tagores nachzeichnen. Die phylo- wie ontogenetische Menschwerdung und damit das Wesen des Menschen hängen für Tagore ganz entscheidend an der Bewusstwerdung der Einheit, der tiefen Verbundenheit miteinander wie mit dem All. Des Menschen Geist (mind) weiß sich durchweht vom göttlichen Geist (Spirit). Das gedankliche Konzept spricht dann von Gott, dem Einen, dem Höchsten, dem Urquell allen Seins. „Des Menschen ehrfürchtige Treue gegenüber diesem Geist der Einheit findet seinen Ausdruck in seiner Religion. In den Namen seiner Gottheiten wird sie Symbol… Religion besteht in dem Bestreben des Menschen, diejenigen Eigenschaften zu pflegen und auszudrücken, welche der Natur des ewigen Menschen eigen sind und an sie zu glauben“ (RM, 96).

Tagore zielt darauf ab, dass in allen Menschen eine Vision der Vollkommenheit angelegt ist, ein Sinn für ein Leben in Wahrheit, Güte und Liebe. Diese „Schau des höchsten Menschen wird von unserer Einbildungskraft verwirklicht, aber nicht von unserem Geist geschaffen“ (RM, 95). Wir rühren an eine super-personality, in indischer Sprache als purusha gefasst, ein „selbstbewußtes Prinzip transzendentaler Einheit im Menschen“ (RM, 79). Hieße dies in unserer Sprache der kosmische Christus, von dem gilt: Nicht ich lebe, Christus lebt in mir? Konkret ereignet sich diese belebende geistige Schau in unserem Gespür für Werte. Diese werden in Kunst, Wissenschaft, Dichtung, Feier und Musik zur Darstellung gebracht. Religion gibt es nur als Kultur, nur in der Bereitschaft zur Kulturarbeit. Nur sie kann das wilde Tier, das noch immer in uns ist, zähmen und zur wahren Freiheit des Geistes befreien. Es ist der Überschuss Geist, der den Menschen zum Menschen macht und ihn das Unendliche ahnen, schauen, dann in einer umfassenden Communio leben lässt. Die großen, echten Religionen zeigen sich in ihrer Fähigkeit, die Fesseln der dämonischen Kräfte, die Fesseln der dumpfen Mythologeme zu sprengen und die Menschen in das innerste Herz zu führen., sie zu anbetender Liebe zu befreien und zur Hingabe für das Wohlergehen aller (s. RM, 48). Religion, das heißt „durch die innere Konzentration des Geistes die Heiterkeit des Unendlichen in unserem Wesen erlangen“ (RM, 58).

  1. Die religiöse Erfahrung

Im zentralen 6.Kapitel seines Buches „Die Religion des Menschen“ gibt Tagore nun Einblicke in seine persönlichen religiösen Erfahrungen. Gott erfahren, das heißt Berührtwerden von einem grenzenlosen Geheimnis voller Seligkeit. Als transzendentale Erfahrung wäre dies buchstabierbar, als vernunfthelle, existentielle Mystagogie praktizierbar, ist doch das Woraufhin der Transzendenz das absolute Sein oder das Seiende absoluter Seinsfülle, für Tagore der höchste Liebende, the Supreme Lover oder nach Upanishaden-Art indisch gefasst: „advaitam ist anandam. Das unendliche Eine ist unendliche Liebe“ (RM, 46).

Tagore berichtet: „Als ich 18 Jahre alt war, drang plötzlich zum erstenmal ein Frühlingsausbruch religiöser Erfahrung in mein Leben und verwehte wieder, in meinem Gedächtnis eine unmittelbare Botschaft geistiger Wirklichkeit hinterlassend. Als ich nämlich eines Tages im ersten Morgendämmern beobachtete, wie die Sonne ihre Strahlen hinter den Bäumen emporsandte, fühlte ich plötzlich, wie wenn irgendein uralter Nebel sich in einem Augenblick von meinen Augen gehoben hätte, und das Morgenlicht über dem Angesicht der Welt offenbarte mir ein inneres Strahlen der Freude“ (RM, 63). Folge ich hier Tagores Marburger Vortrag „Meine Religion“, wo er dasselbe entscheidende Erlebnis darlegt, lese ich dort: „das morgendliche Licht offenbarte auf dem Angesicht der Welt einen seltsamen Widerglanz entzückter Freude“ (Be, 12).

Wir begegnen hier dem innersten Kern der Tagoreschen Gedankenwelt. Er weiß sich berührt. Eine unendliche Schönheit ging ihm auf. Sein Bewusstsein erfuhr sich als grenzenlos geweitet. „Die Schöpfung ist ein Rhythmus von wunderbarer Schönheit, kein Zufallsspiel“ (Sa, 78) oder mit den Worten eines der wunderbaren Lieder aus Gitanjali (Nr. 57): „Licht, mein Licht, weltfüllendes Licht, augenküssendes, herzbesänftigendes Licht! Ha, das Licht tanzt, mein Liebling, im Herzen meines Lebens…. Die Falter breiten die Segel über das Meer von Licht; Jasmin und Lilien sprießen empor in die Wogen des Lichts“ (HL, 72, um dann in die Schlusszeile zu münden: „maßlose Freude. Der Himmelsstrom ist über die Ufer getreten und eine Freudenflut überschwemmt das Land (Gi, 76). Ist das nur der Gefühlsüberschuss eines romantischen Träumers oder öffnen sich uns hier Pforte in eine Welt von Sinn über Sinn?

Für Tagore war es jedenfalls seine persönliche Erweckung zum Dichter der Göttlichkeit des Seins. „Ich erfuhr mit starker Freude eine tiefe innere Lösung meines ganzen Wesens…. Ich fühlte, dass ich jetzt meine Religion gefunden hatte. Eine Religion, sich schließend um die Menschenidee, in der das Unendliche sich selbst bestimmt zu seiner Erscheinung und zugleich mir so nahe kommt, daß es meine Liebe und meine Mittat fordert“ (Be, 15).

Das erste, entscheidende Gedicht floss ihm in die Feder: „Das Erwachen des Wasserfalls“. Ich lese uns daraus den Eingang aus der Übertragung von Satyabrata Sarkar: „Früh am Morgen – Sonnenstrahlen/ Dringen tief in meine Seele,/ Es klingt die Musik der Morgenvögel/ Hier im Dunkel der Bergeshöhle!/ Oh Wunder! Hätte ich je gedacht, / Dass meine Seele so jäh aufwacht?// Aufgewacht ist meine Seele,/ Aufgewühlt die Wassermassen,/ Mein Seelenschmerz, mein Herzensdrang/ Will heute nicht sich fesseln lassen./ …, dazu gegen Ende: „So viel Hoffnung, so viel Gelingen/ Bewegt das Herz in mir// Ich weiß nicht, wie nach so langer Zeit/ Wacht mein Herz plötzlich auf!/ Der Ozean, ach so fern und weit,/ Tröstet und fordert mich auf.//…(So, 7f). In Tagores eigener Deutung: „Der Wasserfall, dessen Seele in seiner im Eis gefesselten Vereinsamung schlief, wurde von der Sonne berührt, und fand, in einen Sturz von Freiheit ausbrechend, seinen letzten Sinn in einem unendlichen Opfer, in einer dauernden Vereinigung mit dem Meer“ (RM, 63). Dabei ist klar: „Der Fluss kann zum Meer werden, aber er kann nie das Meer zum Teil seiner selbst machen“ (Sa, 121).

Wie ereignet sich Sinn? Wie erfährt der Mensch tiefe Geborgenheit? Warum stellt er sich dem Ruf, der ihn in Verantwortung weißt? Tagore führt aus: „Unser Gefühl der Freude, unsere Phantasie erkennt eine tiefe organische Einheit mit dem ‚All, welche das menschliche Denken begreift… Die Einzelheiten der uns umgebenden Wirklichkeit und ihre Unterschiede muß die Wissenschaft erforschen, aber sie kann nie die Eigenart der sie durchdringenden großartigen Einheit der Verwandtschaft erkennen… Ich will meinen Glauben bekennen, indem ich sage: Diese Welt, die wie wir sagen, aus beseelten und unbeseelten Dingen besteht, hat ihre Gipfelhöhe, ihren besten Ausdruck im Menschen gefunden. Der Mensch als eine Schöpfung vertritt den Schöpfer, und eben darum ist es unter allen Geschöpfen dem Menschen möglich geworden, diese Welt in seiner Erkenntnis zu erfassen und in seinem Gefühl und seiner Vorstellung, in seinem Einzelgeist eine Einung mit einem allgegenwärtigen Geist zu verwirklichen“ (RM, 68f).

Kehren wir an den Anfang der „Religion des Menschen“ zurück, so begegnen uns auf den ersten Seiten schon entscheidende Grundthesen. Da ist gleich der Eingangssatz: „Das Licht ist die strahlende Kraft der Schöpfung“ (RM, 13). Und kurz darauf: Das Geheimnis des Seins, das göttliche Grundgesetz der Einheit ist „immer das einer inneren Wechselbeziehung (inner inter-relationship) … Das Bewußtsein dieser Einheit ist geistig, und unser Bemühen, ihr zu entsprechen, ist unsere Religion. Sie wartet stets darauf, in unserer Geschichte in immer vollkommenerer Beleuchtung offenbar zu werden in den mannigfachen Offenbarungen des Wahren, Guten und Schönen … Die Gottheit in ihm, das ist sein Menschentum!“ (RM, 14f leicht umgestellt).

  • Das innere Gefüge des Religionsverständnisses Tagores

Vieles ist schon angeklungen, vieles auch konnte nicht aufgenommen werden und doch wartet alles bisher Dargelegte darauf, noch einmal entlang von 4 Schlüsselsentenzen der indischen Überlieferung ausgebreitet zu werden. Denn wie Rudolf Otto so fein bemerkte: „Tagore weiß und bekennt sich frei von fremder aufgedrängter und nur übernommener Fühlensweise. Dennoch beruft er sich auf das Blut seiner vedischen Vorfahren, das in seinen Adern fließt, und auf die gleiche Weise des Erfahrens und Deutens der Welt mit jenen“ (Be, 6). Ob zu Recht ist dabei eine andere Frage. Denn auf jeden Fall begegnet uns in Tagore ein aufgeklärtes, gedankenhelles Verständnis der Wirklichkeit, eine hohe Sensibilität für die Harmonie der Wechselbeziehungen, ein Mitschwingen im Sein, das völlig frei ist von irgendwelchen mythologischen Resten oder Verdunkelungen. Und doch sind es ganz bestimmte Verse, auf die Tagore immer wieder zurückkommt, die für das innere Gefüge seines Religionsverständnisses stehen. Es sind dies:

  1. Der Gayatri-Vers aus brahmanischer Tradition in der Aufnahme Tagores: „Lass mich den anbetungswürdigen Glanz dessen betrachten, der die Erde schuf, die Luft und die kreisenden Sterne und der die Fähigkeit des Begreifens in unser Denken legte“ (RM, 62, Sa, 13)
  2. Der Auftakt der Isha-Upanishad 1,1: „Du musst wissen, dass alles, was sich in der bewegten Welt bewegt, in Gott eingehüllt ist“ (RM,157; Sa, 20, 114)
  3. Der wunderbare, alle seine Ausführungen tragende Vers aus der Taittiriya-Upanishad 3,6: „Aus der Freude werden alle Wesen geboren, durch Freude werden sie erhalten und in Freude gehen sie ein, wenn sie von hinnen scheiden“ (Sa, 66; 83, auch 92, dazu RM, 71, auch 153f).
  4. Wer Brahmavihara, die Freude des Lebens in Brahma erreichen will. dem gilt Buddhas Rat „niemanden betrügen, keinen Hass gegen irgendjemanden hegen und nie im Zorn jemandem Böses zufügen wollen. Er soll unbegrenzte Liebe zu allen Geschöpfen haben“ (Sa, 86)

Gehen wir also entlang dieser 4 Sentenzen noch einmal durch Tagores Welt:

„Lass mich den anbetungswürdigen Glanz dessen betrachten, der die Erde schuf, die Luft und die kreisenden Sterne und der die Fähigkeit des Begreifens in unser Denken legte“:

Es ist ein Staunen in Tagore, das einfach beglückt.  Das Licht, die strahlende Kraft der Schöpfung, das Licht des ewigen Ja, ein Geist tiefer Bejahung, ein Sinnkreis aus Licht-Leben-Liebe durchströmt fast alle seine Zeilen. Der von sich selbst befreite Mensch stimmt ein in den Jubel des Seins. Da ist ein Ahnen, das zu einer Tiefenschau der großen Harmonie sich verdichten kann. Durch Meditation und Gottesdienst, durch das Sich-einlassen in die All-Präsenz im Geist verstehender Liebe die „Gegenwart des Unendlichen in allen Dinge sich vorstellen und bejahen“ (Sa, 20), das benennt und besingt Tagore eins um andere Mal. Die Kraft und zugleich die Schlichtheit seiner Worte berühren. Frieden stellt sich ein dank des Glanzes, der dem bewusst gewordenen Geist aufleuchtet. Stellvertretend zitiere ich hier noch einmal aus einem Lied aus den Gitanjali (Nr. 67): „Da kommt der Morgen mit goldenem Korbe, in seiner Rechten trägt er den Kranz der Schönheit, schweigend die Erde zu kränzen. Und da kommt der Abend über die einsamen Wiesen, … er trägt kühle Lüfte des Friedens in seinem goldenen Schlauch…. Aber dort, wo der unendliche Himmel sich breitet, in den sich die Seele zum Fluge hebt, dort herrscht der fleckenlose Glanz“ (HL, 85). Die Erfüllung liegt in unserem Einklang mit allen Dingen. „Freiheit nur im Sinne von Unabhängigkeit ist inhaltsleer und deshalb bedeutungslos. Vollkommene Freiheit liegt in einer vollkommenen Harmonie der Bezüge, die wir in dieser Welt nicht dadurch verwirklichen, daß wir mit Wissen, sondern mit unserem Wesen antworten… durch die Vereinigung vollkommener Sympathie“ (RM, 112).

Klar, dass ihm die Isha-Upanishad so wichtig ist, mittels der er in jungen Jahren schon durch den Vater zur regelmäßigen Meditation angeleitet worden war: „Du musst wissen, dass alles, was sich in der bewegten Welt bewegt, in Gott eingehüllt ist“. Da ist das Urgefühl, teilzuhaben am Sein, eingewoben zu sein in den großen Sinn. Ich bin Teil des Universums, „ein Mitklang in der Wesen Harmonie“ (J.G. Herder). Bei Tagore verbindet sich dies nun mit sehr wertvollen Gedanken zur weiteren Beschreibung dieser Teilhabe, genauer Teilgabe. Hier gilt der Grundsatz: homo capax infiniti, non per se, sed per infinitum.  Das göttliche Geheimnis des Seins zeigt sich gerade in der „wunderbaren Eigenschaft verwickelter gegenseitiger Bezogenheit.“ (RM, 13). Die Schöpfung in ihrer inneren Vielgestalt, ihrem bunten Wechselspiel ist ihm die Selbstmitteilung des Höchsten, des Einen, Unendlichen, Ewigen, der gerade nicht bei sich selbst sein will, sondern sich im Anderen, im Endlichen setzt. Einheit ist nicht als monolithischer Block zu verstehen, sondern als Beziehung, „Einheit, die die Vielheit in sich schließt“ (Sa, 27). In der „Religion des Menschen“ führt er aus: Der Eine, Unendliche besteht „in einer vollkommenen Einheit, in welcher der Inbegriff der Vielheit nicht wie in einem äußeren Behälter, sondern wie in einer Vollkommenheit (inner perfection) ist, die ihre Inhalte durchdringt und übertrifft, ähnlich der Schönheit in einer Lotosblume, die unaussprechlich mehr ist als alle Bestandteile der Blume. Nicht die Größe der Ausdehnung, sondern eine intensive Qualität der Harmonie erweckt in uns den positiven Sinn für das Unendliche“ (RM, 45f). In Sadhana hat er es eindrücklich formuliert: „Gottes Schöpfung hat ihren Ursprung nicht in irgendeiner Notwendigkeit; sie entspringt aus der Fülle seiner Freude, seine Liebe ist es, die schafft, daher ist die Schöpfung seine eigene Offenbarung“ (Sa, 66).

So sind wir bei der dritten Sentenz angekommen, diesem: „Aus der Freude werden alle Wesen geboren, durch Freude werden sie erhalten und in Freude gehen sie ein, wenn sie von hinnen scheiden“. Freude, Freude, das Daseinselixier, das göttlich-menschliche Existential, so oft schon angeklungen. „Das unsterbliche Wesen offenbart sich in Gestalt der Freude …Es ist die Natur dieser überquellenden Freude, sich in Form, die Gesetz ist, zu verwirklichen“ (Sa, 84), Gottes „Schöpfung ist die unaufhörliche Selbsthingabe seiner Freude“ (Sa, 105).Ja: „Wer könnte atmen und leben, wenn der Raum nicht mit Freude, mit Liebe gefüllt wäre?“ (Sa, 86, Zitat aus der Taittiriya-Upanishad 2,7,1).

„Nicht der Zwang, sondern die Freude ist der endgültige Appell an den Menschen. Und die Freude ist überall; sie ist im grünen Gras der Erde und im heitern Blau des Himmels; in der sorglosen Üppigkeit des Frühlings und in der strengen Enthaltsamkeit des Winters; in den pulsierenden Adern unseres Körpers, in der edlen, aufrechten Haltung der menschlichen Gestalt… In der Freude gelangt die Einheit zu ihrer Verwirklichung: die Einheit unserer Seele mit der Welt und die Einheit der Welt mit der ewigen Liebe.“ (Sa, 94)

Immer wieder gelingen ihm herrliche einfache Formulierungen, wie diese: „Freude ohne das Spiel der Freude ist keine Freude“ (Sa, 104). Freude ist ihm zugleich das eine, entscheidende Kriterium aller Wahrheit, die ins Leben führt: In „Religion des Menschen“ führt Tagore aus: „Bloße Unterrichtung über Tatsachen, bloße Entdeckung von Macht gehört zur Außenseite und nicht zur inneren Seele der Dinge. Freude ist der eine Maßstab für die Wahrheit, und wir erkennen sofort, ob wir die Wahrheit berührten – an der Musik, die sie uns schenkt, an der Freude des Grußes, den sie der Wahrheit in uns sendet. Das ist die wahre Grundlage der Religion. Wir empfangen das Licht nicht als Ätherwellen, der Morgen wartet nicht auf irgendwelchen Wissenschaftler, um sich uns vorstellen zu lassen. Ebenso berühren wir die unendliche Wirklichkeit unmittelbar in uns nur dann, wenn wir die reine Wahrheit von Liebe und Güte wahrnehmen“ (RM, 71)

Damit sind wir nun bei unserem 4. Ankerpunkt angekommen, Buddhas Einweisung in die große Liebe, die selbstlose Liebe (disinterested love): „Täuscht nicht untereinander, verachtet niemals irgendeinen, niemals wünscht einem im Zorn, dass er durch euren Leib, eure Worte oder Gedanken leide. Wie eine Mutter ihren einzigen Sohn mit ihrem eigenen Leben erhält, so erhalte dein unermesslich liebendes Denken für alle Geschöpfe. Über dir, unter dir, auf allen Seiten um dich schenke aller Welt dein Mitleid und unermesslich liebende Gedanken, die ohne Hindernisse sind, ohne jeden Wunsch zu verletzen, ohne Feindschaft“ (RM, 47f).

In Sadhana führt er aus: „Vollkommen gut sein heißt, sein Leben im Unendlichen verwirklichen“ (Sa,52.) Das ist die Lehre Buddhas. Das ist auch die Vision Christi vom Himmelreich: „diese sittliche Kraft bis zum höchsten Grad auszubilden, zu wissen, dass das Feld unserer Tätigkeit sich nicht auf die Sphäre unsres engen Ichs beschränkt… Wenn wir zu dem Leben im All, welches das sittliche Leben ist, gelangen, so werden wir befreit von den Banden der Lust und des Schmerzes, und an Stelle des Ich-Gefühls tritt eine unaussprechliche Freude, die grenzenloser Liebe entspringt. In diesem Zustand ist die Tätigkeit der Seele nur um so mehr erhöht, nur sind nicht Begierden die Triebkraft, sondern die aus der Liebe geborene Freude…Wirken in selbstloser Güte“(Sa,52).

Wie er in der „Religion des Menschen“ auf Buddha zu sprechen kommt, da deutet er Buddha einmal mehr dahin, dass dessen „Schau des Unendlichen nicht die Idee eines Geistes unbegrenzter kosmischer Tätigkeit war, sondern das Unendliche, dessen Bedeutung im positiven Ideal der Güte und Liebe liegt, die nicht anders als menschlich sein können. Indem du wohltätig, gut und liebevoll bist, denkst du nicht an das Unendliche in Sternen oder Felsen, sondern an das im Menschen offenbarte Unendliche. Buddhas Lehre spricht vom Nirwana als höchstem Ziel. Um sein wirkliches Wesen zu verstehen, müssen wir den ‚Weg kennen, wie man es erlangt: nicht nur durch Verneinen böser Gedanken und Taten, sondern durch Ausschalten aller Begrenzungen der Liebe. Nirwana muß die Erhöhung der Liebe in eine Wahrheit bedeuten, welche die Liebe selbst ist, die an ihrem Herzen alle diejenigen vereint, denen wir unser Mitgefühl und unseren Dienst anbieten müssen… Gott im Menschen hängt für die Erfüllung seiner Liebe vom Dienst der Menschen und von der Liebe der Menschen ab“ (RM, 48f), Nirwana in der Sicht Tagores „der höchste Gipfel der Liebe“ (Sa, 65).

  • Schluss

Wie den Schlusspunkt setzen? Mit den Zeilen eines Gebets aus Sadhana? „O Du, der Du dich unaufhörlich selbst hingibst! Wenn du dich uns als Freude offenbarst, lass unsre Seelen zu dir emporflammen wie das Feuer, dir zuströmen wie der Fluss, dein Wesen durchdringen wie der Duft der Blume! Gib uns Kraft, unser Leben zu lieben, ganz zu bejahen, mit seinen Freuden und Leiden… Gib uns Kraft, Augen und Ohren deinem Weltall offen zu halten und mit voller Freudigkeit darin zu wirken“ (Sa,106) oder mit dem Schlussgedicht aus Gitanjali (Nr.103): „Als einen einzigen Gruß an dich, Gott, lass all meine Sinne sich entfalten und diese ‚Welt zu deinen Füßen berühren…. Lass all meine Lieder ihre Melodien zu einem Strom vereinen und in das Meer der Stille münden – als einen einzigen Gruß an dich. Wie ein Schwarm an Kranichen, die krank vor Heimweh Tag und Nacht zu ihren Nestern in den Bergen zurückfliegen, so lass mein ganzes Leben eine Reise sein zu seinem ewigen Heim – als einen einzigen Gruß an dich“ (Gi, 122).

Oder um wieder in Europa anzukommen mit Zeilen von William Wordsworth (1770-1860)? Tagore zitiert sie in der „Religion des Menschen“ zum Abschluss einer Reihe von Zitaten indischer Mystikerpoeten gleichsam als Referenz an den Westen und dessen eigene Quellen der metaphysischen Dichtung und der philosophischen Mystik: „Wir leben durch Bewußtsein, Hoffen, Lieben, und immer, wenn sie echt und rein geblieben, erheben wir uns in die Heiligkeit des Seins.“ (RM, 75) Was Tagore dann in eigenen Worten so fasst: „Nach dieser Würde des Seins streben wir durch die Erweiterung unseres Bewußtseins in eine große Wirklichkeit des Menschen, der wir zugehören. Wir verwirklichen sie durch Bewunderung und Liebe, durch Hoffnung, die sich über das Tatsächliche aufschwingt, über unsere eigene Lebensspanne hinaus in eine endlose Zeit, in der wir das Leben aller Menschen leben… Religion bezieht sich unvermeidlich auf das Menschentum, das unsere Vernunft erleuchtet, unsere Weisheit inspiriert, unsere Liebe befeuert, unseren einsichtigen Dienst beansprucht“ (RM, 75f).

“Der Gott des Menschentums ist vor die Tore der zerstörten Stammestempel gekommen“ (RM, 106).

Zitierte Literatur von Rabindranath Tagore, Die Religion des Menschen, Freiburg 1962 (RM), die englischen Verweise folgen der Ausgabe The Religion of Man, New Delhi 2012;  Sadhana, Heidelberg 2009 (Sa); Hohe Lieder, Heidelberg 2005 (HL); Gitanjali, Köln 2013 (Gi); Die Sonne des Tages, Kirchentellinsfurt 2012 (So); dazu R.Otto, Rabindranath Tagore’s Bekenntnis, Tübingen 1931 (Be)

Vortrag von Dr. Dieter Koch bei der Tagung „Die Kirche und der kosmische Christus“ in Venedig am 4.11.2021

zuerst veröffentlicht in Deutsches Pfarrerblatt 7/2022, S.425-430

Das tragische Lebensgefühl

Filed under: Vorträge — Dieter Koch @ 09:10
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zuerst veröffentlicht in Deutsches Pfarrerblatt 5/2019, S.276-280

23. Dezember 2023

Taufe und neues Leben

Filed under: Predigten — Dieter Koch @ 11:29

Taufe und neues Leben – eine Taufansprache im Anschluss an Römer 6,3-8

Liebe Familien, liebe Gemeinde,

  • Wir feiern das Leben:

wir feiern das Leben. Wir sind erfüllt von tiefem Dank für das Leben der Kleinen. Heute empfangen sie das Sakrament der Taufe. Wasser fließt und der Gottesname wird über ihren Kindern ausgerufen. Wir stellen sie hinein in den Horizont Gottes, in den Aufgang des ewigen Morgenrotes. Wir spüren das Geheimnis der Schöpfung. Gott gibt Leben. Gott segnet unser Leben. Wohin wird es führen? Wohinaus wird Er es führen?

In dieser Stunde der Freude, in dieser Stunde des Glücks, ahnen wir auch: Nicht immer wird es leicht sein, nicht immer wird es auch für ihre Kinder licht und leicht sein. Ihr wie unser Leben ist bedroht und bleibt bedroht. Gefahren lauern am Wegrand, das Böse ist stark. Trug und List regieren die Welt. Krankheiten brechen auf und Seelen lassen sich leicht, sehr leicht brechen. Von ganzem Herzen bitten wir: Lieber Gott, gib, dass sie behütet bleiben!

Wir vertrauen Jesus:

Suchen wir darum nicht Gott, verlangen wir darum nicht nach seinem Zeichen? Die Taufe ist sein Zeichen, das Siegel des Glaubens. Die Taufe verspricht: Du bist, du bleibst Gottes Kind. Was dich mit allen Menschen des Glaubens verbindet, ist, dass, gleich ob im Lachen oder im Weinen, im Glück wie im Schmerz, wir dem vertrauen dürfen, der der Anfänger und Vollender des Glaubens ist, Jesus Christus.

Warum gerade ihm vertrauen? Nun, weil hier gilt, wie es in dem Lied, das wir gesungen haben, heißt: „Du hast die Frucht von deinem Sterben, mein treuer Heiland, mir gewährt; du willst in aller Not und Pein, o guter Geist, mein Tröster sein!“ Das Zeichen des Kreuzes erinnert daran. Das Zeichen des Kreuzes steht für alles, was uns Jesus gab. In ihm sammelt sich seine ganze Botschaft, seine ganze Hingabe bis hinein in seinen Tod.

Wir glauben mit ihm:

Nach dem: Ich taufe dich auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, zeichne ich ihren Kindern das Kreuzzeichen auf die Stirn. Es ist ihr Königszeichen, ihr Priestermal. Was aus der Taufe gekrochen ist, ist König und Priester, lehrte Martin Luther immer und immer wieder. Ihr seid Königen gleich in die Freiheit gesetzt. Ihr seid niemandem untertan. Ihr seid nicht länger Knechte der Angst, nicht hilflos der Gewalt ausgeliefert!

Ihr seid frei zu lieben, zu hoffen, zu vertrauen. Ihr seid einander anvertraut. Tretet füreinander ein vor Gott im Gebet! Hütet einander wie einen Augapfel und gönnt einander das Glück der Tage! Doch warum steht gerade dafür das Zeichen des Kreuzes? Es nimmt uns hinein in die Sterbestunde Jesu. Jesus stellte sich hinein in das Wüten der Welt. Er stellte sich dem bösen Geflecht aus Zorn, Gier, Hass und Streit, um uns von ihren Fesseln zu lösen.

Er gab sein Leben für uns hin:

Er blieb in tiefer Liebe Gott und den Menschen treu, auch wo es ihn das Leben kostete. Er gab sich zum Opfer für die Welt, damit es vorbei sei mit dem Geist, der andere opfern lässt. Er litt tiefsten Schmerz, verflucht von den Menschen, einsam vor Gott, damit wir frei werden von dem, was uns quält. Er starb für uns, doch Gott erhob ihn in das nie mehr endende Leben. Dafür steht das Zeichen des Kreuzes. Es öffnet uns für das österliche Morgenrot.

  • Manchmal rühren wir mitten im Leben an dieses Geheimnis. Manchmal werden wir durch ein tiefes Tal geführt. Es ist, als würden wir sterben, als müssten wir alles losgeben. Doch wenn dann das Licht wieder kommt, es neu und so anders als vorher Tag wird in meinem Leben, dann weiß ich: Ich lebe, ich darf leben! Ich liebe, ich darf lieben! Ich atme frei. Gottes Lebensgeist durchströmt neu meine Adern. Alles Falsche ist überwunden. Der Vogel ist frei!

Manchmal ist es als müssten wir sterben, um leben zu können:

So wie Rebecca: Jahrzehntelang hatten körperliche Merkmale und soziale Normen sie in ein Frauenleben gezwängt. Doch ihre Seele war die eines Mannes. Erst nach einem Läuterungsbad der besonderen Art gingen ihr die Türen in die Freiheit auf. Erst musste alles Erlernte sterben, erst musste die alte Welt zerschellen, bis sie als er zu sich fand. Jetzt darf er leben mit vollen Rechten, Daniel.

Wie aus Rebecca Daniel wurde, so wurde aus Mercedes Joanne. Es war beim Ansetzen des zahnärztlichen Bohrers, als mitten im Aufschrei des körperlichen Schmerzes ihr innerer seelischer Schmerz mehr noch aufging und sich vieles zu lösen begann. Eine Welt der Demütigungen, kleiner und großer Misshandlungen, zerstäubte, wie sie aus unergründlichen Quellen herkommend den Ruf hörte: Lebe! Du darfst leben! Leben wie der Vogel im Wind!

Wir sind in Jesu Tod getaucht, damit wir leben in ihm:

Der dich erschuf, der dich gesandt, der aus dem Tod zum Leben auferstand, der trotz Hass, Gewalt und Menschenlist, dir zum Freund und Bruder worden ist, Gott in Jesus Christus, der sagt Ja zu Dir. Sein Ja ist Zuspruch in der Not, Wegzehrung, Zeichen, Wort und Ruf.  “Die wir mit ihm verbunden und ihm gleich geworden sind in seinem Tod, werden ihm auch in der Auferstehung gleich sein“ (Römer 6,5).

Du gehörst allein dem, der für dich den Schmerz dieser Welt annahm. Eine neue Sicht ist möglich, ein anderer Wandel, ein zweites Leben. Weder Hierarchie noch Unterwerfung, sondern geschwisterliche Gemeinschaft, die Bruderschaft der vom Schmerz Gezeichneten, zählen nun. Wir bleiben auch als Getaufte zerbrechlich, aber wir sind mit Christus verbunden.

Ich bin in Christus eingesenkt, ich bin mit seinem Geist beschenkt.

Gott, der du durch die Taufe jetzt im Glauben einen Anfang setzt, gib auch den Mut zum nächsten Schritt. Zeig uns den Weg und geh ihn mit.

Ankommen Willkommensein

Filed under: Predigten — Dieter Koch @ 11:25

eine Predigt zur Jahreslosung 2022 Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen (Johannes 6,37)

Ankommen, Willkommensein, Heimat erfahren, darum geht es in der neuen Jahreslosung: Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen! (Johannes 6,37) Kommt her, ihr seid geladen.  Die Türen stehn weit, weit offen. Mach dich auf! Komme an! Du bist willkommen! Mein Haus ist auch dein Haus!

Aber ist es so? Bin ich angekommen? Im Beruf? Im Verein? In der Kirchengemeinde? Bin ich willkommen? Gehöre ich dazu? Oder ist es so: Die Plätze sind schon besetzt. Man redet nicht miteinander. Man geht nicht aufeinander zu. Man gönnt einander nichts und das lösende Wort kommt so schwer über die Lippen. Wo ist dein Bruder? Ich habe keinen Bruder!

Ankommen, Willkommensein, Heimat wieder erfahren, darum geht es. Und ich will Sie dazu an eine Geschichte erinnern, die Ihnen möglicherweise wohlvertraut ist, die es aber wert ist, immer und immer neu erzählt zu werden, damit sie unter die Haut geht und in die Herzen dringt, und es besser wird miteinander, die Geschichte „Das weiße Band am Apfelbaum‘“:

„Einmal saß ich bei einer Bahnfahrt neben einem Mann, dem sichtlich etwas Schweres auf dem Herzen lastete. Schließlich rückte er damit heraus, dass er ein entlassener Sträfling und jetzt auf der Fahrt nach Hause sei. Seine Verurteilung hatte Schande über seine Frau und seine Kinder gebracht, sie hatte ihn nie im Gefängnis besucht und auch nur ganz selten geschrieben. Er hoffte aber trotzdem, dass sie ihm verziehen hätten.

Um es ihnen aber leichter zu machen, hatte er ihnen in einem Brief vorgeschlagen, sie sollten ihm ein Zeichen geben, an dem er, wenn der Zug an der kleinen Farm vor der Stadt vorbeifuhr, sofort erkennen könne, wie sie zu ihm stünden. Hätten die Seinen ihm verziehen, so sollten sie in dem Apfelbaum an der Strecke ein weißes Band anbringen. Wenn sie ihn aber nicht wieder daheim haben wollten, sollten sie gar nichts tun, dann werde er im Zug bleiben und weiterfahren, weit weg, Gott weiß, wohin.

Als der Zug sich seiner Heimatstadt näherte, wurde seine Spannung so groß, dass er es nicht über sich brachte, aus dem Fenster zu schauen. Ein anderer Fahrgast tauschte den Platz mit ihm und versprach, auf den Apfelbaum zu achten. Gleichdarauf legte der dem jungen Sträfling die Hand auf den Arm. ‚Da ist er‘, flüsterte er, und Tränen standen ihm plötzlich in den Augen, ‚alles in Ordnung. Der ganze Baum ist voller weißer Bänder‘.

In diesem Augenblick schwand alle Bitternis, die ein Leben vergiftet hatte…“ (J.K.Lagemann in Heilsame Reise, S.150)

Ich hatte einen sehr geschätzten und geliebten Lehrer, der pflegte zu sagen: Ich wünsche Ihnen einen guten und leichten Tag. So wirkt Segen: Ich will, dass es dir leicht wird. Ich wünsche dir, dass du es dir leichter machst. Mein Teil will ich dazu tun. Lasten teilen, Freuden mehren. Finde die Heimat in dir! Dank mir! Auch du bist ein Kind des Universums.

Liebe Gemeinde, es ist ein guter Vorsatz, dies einander zu sagen: Ich wünsche dir, ich wünsche Ihnen einen guten und leichten Tag, Auch das ist ein kleines weißes Band am Baum deines Lebens. Das Wort tut gut und öffnet die Seelen für einen Augenblick, für einen Augenblick mehr, zu staunen, zu lieben, einander und auch sich selber das Leben zu gönnen,

Dazu möchte ich Ihnen heute eine zweite Geschichte mitgeben, sie trägt den Titel: Der beste Augenblick des Tages: „Es lebte einmal ein junger Mann, der täglich über den Sinn der Welt nachgrübelte. Vor allem beschäftigte ihn der Gedanke, was im Leben am meisten Ernst habe, denn, so meinte er, das Gewicht des Ernstes könne am ehesten den Menschen unter die Oberfläche des Daseins ziehen und ihn dem Grund aller Dinge nahebringen. So viel er aber nachdachte und die Menschen beobachtete, er kam zu keinem Ergebnis. Um in seine Zweifel Klarheit zu bringen, suchte er schließlich einen alten Weisen auf, der allein in einem weit entfernten Wald lebte. Der Meister fragte ihn, was ihn herbeigeführt habe, und er berichtete, er suche nach dem Kostbarsten, was ein Mensch tun könne, um sich der Gottheit zu nähern. ‚Was hast du auf dem Weg hierher getan?‘, fragte ihn der Meister. Der junge Mann glaubte, er habe ihn nicht verstanden und wiederholte sein Anliegen. Doch der Meister fragte nochmals: ‚Was hast du auf dem Weg nach hier getan?‘ ‚Ich habe geschwitzt‘, sagte der junge Mann, ‚denn der Weg auf die Höhe war steil, ich geriet außer Atem und hatte großen Durst. Aber ich habe versucht, die Beschwerden des Weges geduldig zu ertragen‘. ‚Was hast du noch getan?‘ ‚Ich habe meditiert, wie ich es täglich tue. Heute habe mich in den Gedanken versenkt, dass der Gleichmut eine Tugend sein kann‘. ‚Was hast du noch getan?‘ ‚Ich habe einem alten Mann sein Bündel Holz ins Dorf getragen. Es war für mich ein Umweg, aber ich sah, dass der Alte zu schwach für die Last war‘. ‚Was hast du noch getan?‘ Der Jüngling zögerte, dann sagte er: ‚Ich habe eine Weile auf einem Stein gesessen und mit dieser Glaskugel gespielt, die mir mein Vater geschenkt hat, als ich die Schule verließ‘. ‘Bei welcher Beschäftigung fühltest du dich am leichtesten?‘ Der Jüngling sah den Alten ratlos an. ‚Beantworte mir bitte meine Frage‘, sagte er, ‚ich kam doch mit einem Anliegen zu dir‘. Der Meister wiederholte, als habe er seinen Einwand nicht gehört: ‚Bei welcher Beschäftigung fühltest du dich am leichtesten?‘ ‚Beim Spiel mit der Kugel‘, sagte der junge Mann beschämt, ‚da war ich ganz leer und fröhlich, ich hatte kein Gedanken und Sorgen‘. ‚Das war der beste Augenblick dieses Tages‘, sagte der Meister. ‚Das Spiel ist ganz leicht und zugleich ganz ernst, darum ist es der Gottheit nah. Du gelangst unter die Oberfläche des Daseins, indem du dich darüber erhebst“ (Rosemarie Harbert in Heilsame Reise, S.125f)

Ich wünsche dir einen guten und leichten Tag. Komm an! Komm an bei Dir! Ich öffne Dir die Türen zu Dir! Komm, auch Du bist geladen zum Fest des Lebens. Die Türen stehen weit, weit offen für das Spiel des Lebens. Mach dich auf! Komm an! Lege deine Lasten ab! Du bist willkommen. Mein Haus ist auch dein Haus! Wir teilen das Brot miteinander Ankommen, Willkommensein, Heimat erfahren, darum geht es in der neuen Jahreslosung: Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen!

Richtet nicht, die ihr von der göttlichen Gnade berührt seid

Filed under: Predigten — Dieter Koch @ 11:19

Predigt von Pfarrer Dr. Dieter Koch für den 3.Advent, den 12.12.2021 zu 1. Korinther 4,1-5

Richtet nicht! Richtet nicht vor der Zeit! Bleibt Menschen, die von der göttlichen Güte berührt einander barmherzig und vernünftig das Leben erschließen

Liebe Gemeinde, die gehörten Worte klingen in unseren Ohren nach: Richtet nicht! Richtet nicht vor der Zeit. Aber bleibt treu in eurem Werk, bleibt Menschen, die von der göttlichen Güte berührt einander barmherzig und vernünftig das Leben erschließen.

Richtet nicht! Richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt. Er allein wird ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, was sich unserem Durchblick und unserer Einsicht entzieht. All unser Wissen, all unser Urteilen, ist und bleibt Stückwerk. Was uns als richtig erscheint, wie wir meinen, das Leben ordnen zu müssen, all unser Entscheiden, ist zutiefst vorläufig, fragmentarisch, der Veränderung bedürftig. Sind wir uns dessen wirklich bewusst? Wie stellen wir uns darauf ein, ohne uns einfach nur der Nichtigkeit von allem zu überlassen?

  1. Eine Legende:  Die Schaulustigen und der Elefant

Eine Legende geht durch die Zeiten: „Man hatte einen Elefanten zur Ausstellung bei Nacht in einen dunklen Raum gebracht. Die Menschen strömten in Scharen herbei. Da es dunkel war, konnten die Besucher den Elefanten nicht sehen, und so versuchten sie, seine Gestalt durch Betasten zu erfassen. Da der Elefant groß war, konnte jeder Besucher nur einen Teil des Tieres greifen und es nach seinem Tastbefund beschreiben. Einer der Besucher, der ein Bein des Elefanten erwischt hatte, erklärte, dass der Elefant wie eine starke Säule sei; ein zweiter, der die Stoßzähne berührte, beschrieb den Elefanten als spitzen Gegenstand; ein dritter, der das Ohr des Tieres ergriff, meinte, er sei einem Fächer nicht unähnlich; der vierte, der über den Rücken des Elefanten strich, behauptete, dass der Elefant so gerade und flach sei wie eine Liege“ (zitiert nach N. Peseschkian, Der Kaufmann und der Papagei, Frankfurt 1979, S.73f).

Vier Blickweisen auf den Elefanten werden erzählt, Vier Perspektiven, das Leben zu sehen, stehen nebeneinander. Stehen sie auch gegeneinander? Prallen die Urteile aufeinander oder gibt es einen Geist, eine Kultur, eine Umgangsform, mit diesen verschiedenen Entdeckungen geschwisterlich umzugehen, sie stehen zu lassen, sie einander bereichern zu lassen? Wir wissen, alle haben etwas Wahres an diesem Elefanten entdeckt. Aber wissen sie es auch und könnten sie ihre ersten Beschreibungen und Urteile sich gegenseitig überlappen lassen? Ja, aber nur, wenn sie sich ihrer bruchstückhaften Zugangsweisen zu diesem unbekannten Objekt, Elefant genannt, bewusst wären.

Das Problem: Wir schauen von außen darauf. Wir sehen, als die, die den Durchblick haben, dass es ein Elefant ist. Wir könnten uns einbilden, alle vier Perspektiven miteinander ins Gespräch, miteinander ins Lot zu bringen, weil klar ist, wo sie jeweils wahr und wo sie jeweils falsch sind. Aber ist das so einfach möglich? Was wissen wir denn tatsächlich über die Wirklichkeit und das, was die Welt im Innersten zusammenhält?

  1. Eine akademische Lehrstunde über die intellektuelle Geduld

Da möchte ich mir erlauben, Sie in eine einzigartige Stunde der akademischen Welt mitzunehmen, an der ich als junger Student Anteil haben durfte: Man schrieb den 13.5.1982. Die Universität Tübingen hatte zur Verleihung des Leopold-Lucas-Preises an Karl Rahner geladen. Alles war bestens vorbereitet und festlich inszeniert. Da trat der Preisträger ans Mikrofon und schon mit den ersten Sätzen versetzte Karl Rahner den Kanzler der Universität wie die ganze zahlreich erschienene Professorenschar in Erstaunen und Erschrecken. Denn ein Abgrund tat sich auf: Karl Rahner stellt seine Zuhörer, auch uns Studenten, die wir in der letzten Reihe Zutritt bekommen hatten, vor die ungeheure Explosion des Wissens in den letzten Jahrzehnten. Der Vortrieb der Wissenschaften ist so immens, dass es gänzlich unmöglich geworden ist, all die unterschiedlichsten Erkenntnisfortschritte noch irgendwie zusammenbinden zu können. Karl Rahner führte aus: „Gemessen an der einer bestimmten Zeit grundsätzlich zur Verfügung stehenden Menge des Wissens wird der einzelne heute immer dümmer. Früher wusste man verhältnismäßig wenig, aber davon konnte einer als einzelner fast alles wissen. Heute weiß man sehr viel und jeder einzelne davon nur einen winzigen Teil“ (zitiert nach E.Jüngel/ K.Rahner, Über die Geduld, Freiburg 1983, S.46). Rahner forderte die Klugen dieser Erde auf, sich dies einzugestehen und bewusst damit leben zu lernen. Denn „die weisen Dummen, die wir hoffentlich sind, erfahren den bitteren Schmerz ihrer Dummheit und müssen sie darum in Geduld ertragen lernen“ (ebd., 53). Wer ist weise genug? Wer kann urteilen über was, über wen, nach welchem Maß? Intellektuelle Geduld tut not und die Kunst, bescheiden und doch leidenschaftlich um das gemeinsame Gut gelingenden Lebens zu ringen.

Die akademische Sternstunde von einst ist verglüht. Die kluge Diagnose und der weise Rat Karl Rahners ist verhallt. Was viele heute erleben und wirklich schmerzt, sind dafür die immer neuen Wellen der Rechthaberei, die unser Land durchziehen. Die Wirklichkeit wird zurecht gebastelt, wie es einem gerade passt. Andere Sichtweisen werden verunglimpft- Sich der Beschränktheit seiner Einsicht bewusst zu sein, wird nicht ausgehalten. Der Beitrag der Wissenschaften wird lächerlich gemacht. Intellektuelle Geduld, eine Kultur der Fehlbarkeit, eine Zurücknahme des Richtgeistes, sie sind mehr gefragt denn je!

  1. Paulus in Korinth wider die Sophisten in Glaubensdingen

In dieser Situation hören wir die Worte des Apostels Paulus, neu hellhörig geworden., Da ist einer, der den Richtgeist in seine Schranken weist. Was war geschehen? Vom Geist Berührte meinten, in die volle Erkenntnis Gottes vorgedrungen zu sein.  Sie erhoben den Anspruch, dass sie allein über den vollen Durchblick der himmlischen Welten verfügten. Meinungen prallten aufeinander. Ein Glaubenskrieg stand im Raum. Wer hat die alleinige Lehrgewalt über die rechte Auslegung der Worte des Herrn? Da schreitet Paulus ein und macht klar: Nicht du, nicht ich sind die Meister des Evangeliums. Wir alle sind Schülerinnen und Schüler des großen Lehrers. Wir empfangen und wir teilen, was uns zum Wort des Lebens wird. Aber wir verfügen nicht darüber. Allein Christus selbst kann uns in die volle Erkenntnis führen am Tag seiner Wiederkunft. Jetzt können wir nur – und das gerade ist gut – Hörer des Wortes sein und treue Vermittler dessen, wo und wie uns das Evangelium zum Licht des Lebens wird. Wir sind auf Entdeckungsreise. Ein jeder schöpft aus Jesu Werk. Trost kommt und geht. Wahres leuchtet auf und wird wieder verdeckt. Versucht bei aufbrechendem Widerspruch euch klar zu machen: „Wir erkennen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; einst aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen wie ich erkannt bin“ (1. Korinther 13,12).  Du lachst Apollos? Auch du erkennst nur stückweise. Was uns allen bleibt, was uns alle verbindet, ist unterwegs zu bleiben, gemeinsam unserem Vertrauen in Gott, unserer Bereitschaft zur geschwisterlichen Liebe Raum zu lassen, einander das Hoffnungslicht nicht zu verweigern. Darum die überaus scharfe apostolische Weisung gegen die allzu Klugen in Korinth: Keiner richte vor der Stunde der Vollendung. Keiner von uns setze sich auf den Richterstuhl Christi. Angesichts seines Urteils sind und bleiben alle unsere Urteile im wahrsten Sinne des Worts Vor-Urteile. Keiner rühme sich vor Gott. Keiner täusche sich über sich selbst. Keiner erhebe sich über den anderen. Seid vielmehr Bannerträger der göttlichen Herrlichkeit, die sich euch schenkt, bruchstückhaft hier, in der Stunde der Vollendung ganz. Was soll dann all das Richten, all das einander zersetzende Reden, Tratschen, Abwatschen, Beleidigen und Argwöhnen? Gewissenhaftigkeit zählt, auch in Glaubensdingen, aber nicht das oft so kleingeistige, erst innere, dann aber auch gewaltig nach außen tretende Aburteilen Anderer. Rechenschaft werden wir nur IHM zu geben haben, unserem Heiland Jesus Christus. Was aber heißt es dann, in seinem Urteil zu stehen? Was, dass uns Lob dargereicht wird von Gott?

Vor allem: Kennen wir uns denn selbst? Wissen wir hinreichend über unsere Motive und untergründigen Gedanken Bescheid? Was Paulus den Korinthern zumutete und uns zum Nachdenken aufträgt, ist, dass er nicht nur das Urteilen und Richten anderer stark in seine Schranken weißt, sondern, dass auch er, Paulus selbst, sich in der Tiefe seines Wesens entzogen ist, dass er seine Handlungsgründe nicht völlig durchschauen kann, niemand dies kann. Selbst das Gewissenszeugnis ist trügerisch und so ist all unser Wissen, Entscheiden und Urteilen zutiefst vorläufig, fragmentarisch, der Veränderung bedürftig.

  1. Was zählt!

Gott allein durchschaut die Herzen. Sein Geist aber wohnt uns ein. Lob kommt uns von ihm entgegen.  Inmitten der zugemuteten Ernüchterung, dass unser Wissen Stückwerk bleibt, klopft eine Hoffnung an, die tröstet, beglückt, aufatmen lässt. Richtet nicht! Bleibt Menschen, die von der göttlichen Güte berührt einander barmherzig und vernünftig das Leben erschließen.

Die Predigt basiert auf der vom selben Verfasser vorgelegten Predigtmeditation in der Zeitschrift „Für Arbeit und Besinnung“ 21/2021

Die Versuchung will dich lehren: Da ist kein Gott

Filed under: Predigten — Dieter Koch @ 11:13

eine Predigt zu Hiob 2

Liebe Gemeinde,

wir hörten Worte von solcher Bedrängnis, dass alle Bedrängnis unseres Lebens darin aufgefangen scheint. Es sind Worte, die aufwühlen, Worte, die die Wunden des Lebens wieder aufreißen, Worte, die der Versuchung ins Auge schauen und zugleich zu einer einzigen großen Versuchung werden können. In 3 Schritten möchte ich uns diesen Worten annähern:

  1. Die Versuchung will dich lehren: Gott selber versuche dich. Gib ihr keinen Raum
  2. Die Versuchung will dich lehren: Da ist kein Gott.  Da ist nur das große Nichts. Gib ihr keinen Raum.
  3. Die Versuchung will dich lehren: Du hast dir alles selber eingebrockt. Du allein bist schuld. Gib ihr keinen Raum

Die Versuchung will dich lehren: Gott selber versuche. Gott selber spiele ein böses Spiel mit seinen Kindern. Gott habe sein Gefallen an unserem Leid. Man kann das große Vorspiel im Himmel so lesen. So ist es auch aufgebaut. Eine Wette zwischen dem Himmelsgott und dem Satan. Der Allmächtige liefert seinen Schützling Hiob an den Lügengeist aus. Welch eine Zumutung. Was für ein Götze? Ein solcher Gott ist unerträglich. Er ist nicht der Vater Jesu.

Wir sollten aufhören, jemals wieder zu denken, der Weltgrund sei dunkel und voller Gewalt, sei nur Spiel zu Lust und Laune übermenschlicher Mächte und wir nur Marionetten. Doch die Versuchung, diese Versuchung ist da und mächtig zumal. Jakob wird erwählt, Esau verworfen ohne Grund und Maß. Der eine wird erhöht, der andere in den Staub geworfen. Sollte alles Gottes Plan entsprechen, was auf Erden geschieht, dieses Taumelwerk aus Glück und Gunst? Warum ich? Warum schlägt mich Gott? Warum geht es den Gottlosen so gut? Sollte da wirklich eine Wette laufen zwischen dem Allbarmherzigen und Satan, dem Wort- und Sinnverdreher. Gib dieser Versuchung nicht nach: Gott versucht nicht. „Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde. Gott kann nicht versucht werden zukm Bösen, und er selbst versucht niemand. … Irrt euch nicht, meine Lieben: Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei dem keine Veränderung ist noch Wechsel des Lichts und der Finsternis“ (Jakobus 1,13.16f)

Die Versuchung will dich lehren: Da ist kein Gott. Da ist nur das große Nichts. Gib ihr keinen Raum. Es ist die Stimme der Frau im Auftakt des Hiobbuches. Sie schleudert Hiob die Worte entgegen: Sage ab, fluche Gott und stirb. Die einzige Entschuldigung für Gott ist, dass es ihn nicht gibt, formulierte einst der französische Dichter Stendal, ein Atheist und er steht hier stellvertretend für alle, denen angesichts der Leidensgeschichte dieser Welt nicht länger danach ist, auf irgendeinen Gott noch zu trauen. Ist denn nicht alles nur ein Zufallsspiel – das Leben? Gibt es irgendetwas, das sich festhalten lässt, irgendetwas, dass unserem Hoffen, auch unserem Bangen Grund zu geben vermag. Der Blick in die Wirklichkeit ernüchtert jedes suchende Herz. Das Weltall scheint taub für unsere, gerade unsere besten Wünsche. Gott, Gott, wo bist du? Sage ab und stirb! Schleudert Hiobs Frau ihrem Mann entgegen, angesichts des schweren Leids, das über beide gekommen war: Haus und Hof verbrannt, ihrer beider Kinder erschlagen – welch ein Jammer! Härte hat ihr Herz umgriffen. Sie sieht nur noch Ins Nichts und rettet sich ins Nichts. Warum noch irgendetwas erwarten: Das Leben ist zutiefst sinnlos, nichtig und leer und unser Glück von einst, unsere Liebe, unsere Kinder nur Vergangenheit, ausgeleert auf der Müllhalde des Universums. Alles vergeht, alles verrinnt ins Nichts. Man kann es Resignation nennen, man kann Wut darin hören, man kann eine letzte Stärke darin sehen: Wenn Gott schon so zuschlägt, warum dann nicht zurückschlagen, ihn fluchen – und dann sterben. Im Tod sind alle gleich. Aber ist da überhaupt ein Gott, der weist und lenkt? Da ist doch nur Zufall und Notwendigkeit, wie ein weltberühmter Evolutionsbiologe Jacques Monod einst, selber ernüchtert und resigniert formulierte: „Wir sind nur Zigeuner am Rande des Universums, eines Universums, das nicht nur taub für unsere Musik ist, sondern auch gleichgültig gegen unsere Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen“ (Schluss seines Buches, Zufall und Notwendigkeit) Doch was bleibt uns, wenn es Gott nicht mehr gibt? Nichts, nur Sinnleere, nur Kälte und ein bloßes Haschen im Wind. So will, so kann ich nicht leben? „Ohne Gott bin ich nur ein Fisch an Land, ohne Gott ein Tropfen in der Glut. Ohne Gott bin ich ein Gras im Sand und der Vogel, dessen Schwinge ruht. (Doch) wenn mich Gott bei meinem Namen ruft, bin ich Wasser, Feuer, Erde, Luft“, wie es Jochen Klepper so eindrücklich formulierte. Gegen die Versuchung zu resignieren, Gott abzusagen, und sich dem Nichts zu überlassen, sage dir lieber: „Von dir, o Vater, nimmt mein Herz Glück, Unglück, Freuden oder Schmerz. Von Dir, der nichts als lieben kann, vertrauensvoll und dankbar an … verzage Herz, verzage nie! Gott legt die Last auf, Gott kennt sie. Er weiß den Kummer, der dich quält, und geben kann er, was dir fehlt“ (EG 622,1+4).

Doch wenn Gott nur Licht und Liebe, Freude und Frieden ist und gibt, warum leide ich dann. Bin ich allein schuld an meinem Unglück. Aber ich mir alles selber eingebrockt, mich verrannt, mich vertan. Die dritte Gestalt der Versuchung, der man nicht nachgeben darf, will uns lehren: Du selbst bist schuld. Deine Krankheit, dein Schmerz, dein inneres Verlorensein, sind nur die Folge deines Unglaubens, deiner bösen Treibe und Gedanken. Hättest du alles richtig gemacht, säßest du jetzt nicht wie Hiob in der Asche. Bereue, erkenne, sündige hinfort nicht mehr. Dafür stehen im Hiobbuch Hiobs Freunde. Sind sie nicht großartig? Sieben Tage, sieben Nächte sitzen sie bei Hiob. Sie schweigen, aber sie sind ihm nahe. Sie umhüllen ihn mit Liebe und Beistand, echte Freunde, aber dann meinen sie doch: Die Zeit sei nun da, dass Hiob seine verborgenen Untaten erkennen, seiner Schuld ins Auge schaue. Es muss doch eine Erklärung geben für Hobs Pein. Gott prüft dich nicht grundlos so. Es ist die Versuchung, alles einer Erklärung zu unterwerfen, für alles eine Ursache zu finden -aber es gibt sie möglicherweise nicht einfach so.  Was Hiobs Freunde tun, ist, dass sie Hiob dahindrängen, das eine Warum zu finden, den gerechten Grund für all sein Unglück. Und weil auch sie kein Warum kennen, biegen Sie Hiobs Lage und Hiob selbst um und um. Ihre Zuneigung kippt um: Aus Zuneigung wird Distanz, aus Nähe Fremde. Hiob Du allein bist schuld. Doch Hiob wird sich wehren. Die eine, ganze Schuld lässt er sich nicht einreden. Die Versuchung liegt darin, alles erklären zu wollen, für alles einen Grund zu suchen, und für all das Böse einen Schuldigen zu benennen, der man natürlich nie selber ist, immer nur die anderen. So werden Hiobs Freunde doch noch seine Feinde, Sie suchen ihm eine Schuld einzureden, die es so nicht gibt. Sie können ihn nur noch ertragen, indem sie ihn zum Sündenbock machen. Eine Versuchung, der man nicht nachgeben darf! Was dann: Lieben und Beten, niemals aufhören, zu lieben und zu beten und darin zu einer gelassenen Geduld zu finden, das wäre die Lösung.

In einem Wort Hermann Hesses: „Geduld ist das Schwerste und das Einzige, was zu lernen sich lohnt. Alle Natur, alles Wachstum, aller Friede, alles Gedeihen und Schöne in der Welt beruht auf Geduld, braucht Zeit, braucht Stille, braucht Vertrauen“ (EGWü, S.701).

Dreifach begegnen wir heute der Versuchung: Gott versuche, da ist kein Gott, Du allein bist schuld. Geben wir ihr keinen Raum. Machen wir aus der Qual des Warum ein getrostes Warum nicht? Liegt nicht auch in schweren Stunden etwas verborgen, was nur Gott uns schenken kann. „Gott hilft uns nicht immer am Leiden vorbei, aber er hilft uns hindurch“ (Johann Albrecht Bengel)

Er heilt die zerbrochenen Herzen

Filed under: Predigten — Dieter Koch @ 11:08

Er heilt, die zerbrochenen Herzens sind, und verbindet ihre Wunden (Psalm 147,3)

Wir gedenken unserer Verstorbenen. Der Tod ist eingekehrt und hat sie mit sich gerissen. Wunden wurden geschlagen, Wunden brennen. Hier und da hat sich erste Heilung eingestellt. Der Wundschorf legt sich über die aufgerissenen Seiten unserer Seelen. Narben beginnen sich zu schließen. Ist es so?

Trauer lässt sich nicht einfach überwinden. Trauer lässt sich nicht wegwischen. Die Trauer verwebt sich mit unserem Leben. Etwas von ihr bleibt immer, selbst wenn die Tage langsam leichter werden, selbst wenn sich Menschen wieder vergessen können, selbst wenn Ihnen neues Glück, ein neues Lebenslicht leuchtet. Wohin?

Trauer brennt sich ein. Trauer verwandelt uns, so wie sie sich auch selber verwandelt. Aus Schmerz kann Hoffnung aufleuchten, Hoffnung kann uns in ein bewussteres Leben führen. Wie kostbar sind die Tage? Wie vergänglich ist die Zeit? Herr, lehre uns bedenken, dass auch wir sterben müssen. So fülle uns frühe mit deiner Gnade. Fördere wieder das Werk unserer Hände

Gnade begegnet uns in aufglänzenden Momenten der Freude. Gnade leuchtet uns entgegen im Lächeln derer, die uns lieben. Gnade liegt in der Stille eines neuen Morgens. Gnade hüllt sich in Worte, die trösten, die uns aufrichten. Es ist, als dürften wir wieder aufatmen, hören wir ein Wort wie dieses: Er heilt, die zerbrochenen Herzens sind, und verbindet ihre Wunden.

Um uns das vor Augen zu halten, betrachte ich mit Ihnen die Fotografie einer Schale. Irgendwann einmal ist sie zu Bruch gegangen. Aber man hat ihre Scherben nicht einfach in den Müll geworfen und entsorgt. Man hat sie aufgehoben und mit einer besonderen Methode wieder zusammengefügt. Diese Methode stammt aus Japan und heißt Kintsugi.

Das Besondere daran ist, dass man sich nicht bemüht hat, die Scherben so aneinander zu fügen, dass man möglichst wenig von den Bruchstellen sieht. Im Gegenteil: die Methode des Kintsugi lässt die Bruchstellen erst recht hervortreten. Dem Klebstoff aber ist Gold beigemischt worden, so dass die Bruchstellen veredelt werden.

Die Bruchstellen meines Lebens, die mich ausmachen, werden nicht einfach spurlos ausgelöscht, sie verschwinden nicht, sie werden vielmehr von Gott behutsam zusammengefügt und geklebt. Die Wunden bleiben, aber mit dem Gold fällt sein Licht in uns, fällt auf die Narben. Gott lebt im Beten unserer Liebe fort, sinkt immer tiefer in die eigne Segnung.

Hier unten sind wir nur Begegnung. Doch Aufgeblühte sind wir dort, heißt es in einem Gedicht von Nelly Sachs. In der Versöhnung, die Gott stiftet, in der unendlichen Stille seines Friedens werden Wunden geheilt, kommt wieder zusammen, was getrennt war, werden Schmerzen gestillt, kommt man mit sich selbst ins Reine. „Wir müssen leiser, immer leiser werden/ dass uns der sanfte Engel wieder ruft/ Im Lärm der Dinge dunkelt eine Gruft/ drin Friede ruht, das schöne Totenwort./ Gott lebt im Beten unsrer Liebe fort/ sinkt immer tiefer in die eigne Segnung. Hier unten sind wir nur Begegnung, doch Aufgeblühte sind wir dort“ (Inschrift auf die Urne meines Vaters von

Vernünftiger Gottesdienst

Filed under: Predigten — Dieter Koch @ 11:02

Was ihr tut, wie ihr lebt, das ist Gottesdienst. Gottes Erbarmen will sich auswirken in eurer Bereitschaft zur Barmherzigkeit – das ist doch die Botschaft des Meisters aus Nazareth. Gottes Heiligkeit soll sich abbilden im je eigenen heiligen Leben – das ist gute jüdische Überzeugung. Gottes Versöhnungswillen ruft dich, selber bereit zu sein, zur Versöhnung.

Tue du den ersten Schritt, auch wenn es bisweilen gehen mag wie in dieser Anekdote: Am Versöhnungstag erblickt Mandelstam in der Synagoge Wiesenthal, seinen ärgsten Feind und Konkurrenten. Tapfer streckt er ihm die Hand hin und sagt: Ich wünsche dir alles, was du mir wünschst. Darauf gellt Wiesenthal zurück: Was, fängst du schön wieder an!

Wann wird denn das Gute wirklich eine Chance haben? Dann, wenn du beginnst! Dann, wenn du selbst dir zutraust, das Gute zu suchen, zu erkennen und zu tun. Du kannst es. Denn Gott wagt es mit dir. Durch dich, gerade durch dich, strömt Gottes Güte in die Welt. Du bist Versöhnungsort und Tempelstätte.

Die Zeit der äußerlichen Opfer ist vorbei. Der Tempel ist dahin. Du bist Gottes Tempel, der Ort, wo sein Wort, seine Liebe wohnt. Wie wächst Versöhnung? Nicht durch Riten, nicht durch Schlachttiere, allein durch Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Wo wächst Versöhnung? Nicht an heiliger Stätte, nicht an geweihtem Ort, sondern in dir und durch dich.

Wie? Indem du nach dem Guten, dem Wohlgefälligen, dem Vollkommen strebst. Warte nicht, bis irgendein Papst oder irgendeine Ethik-Kommission dir vorgibt, was gut ist. Traue es dir selber zu! „Wage es, dich einzufühlen. Wage die Empathie. Ja, das ist der Kernpunkt, bemerke, dass Du sie (diese Gabe der Einfühlung) längst schon hast.“ (Alexander Kluge)

Dein Leben sei ein vernünftiger Gottesdienst. Gehorsam ist keine Kategorie der Unterwerfung unter irgendeinen Hohepriester, irgendeine Tora mehr, sondern ein etwas altertümlich gewordenes Wort für die tiefe Treue zu sich selbst. Darin liegt das Zutrauen, auf den Wegen der Vernunft das Gute zu suchen und zu entdecken – und gerade so Gott zu dienen.

Eine vernünftige Lebensführung, eine Haltung, die sich am Guten und Wohlgefälligen ausrichtet, ist ein Lebensgebet. „Wisse, dass Gott dienen nichts anderes bedeutet als deinem Nächsten dienen und mit Liebe wohltun, es betreffe Kind, Weib, Knecht, Feind, Freund, ohne Unterschied, wer dein bedarf an Leib und Seele“, so Martin Luther.

Dazu bedarf es der doppelt praktischen Vernunft, der einen, die mit aller Leidenschaft nach Erkenntnis trachtet, nach konkreter Verbesserung unserer Lebensumstände, durch Wissenschaft und Technik, und der anderen, die in tiefer Verantwortung sich von der Not des Nächsten berühren lässt, bereit ist, ihm, die Schmerzen an Leib und Seele konkret zu nehmen.

Wage zu denken, wage dich einzufühlen. Vernunft und Glauben sind Milchbrüder, Genossen im Ringen um eine menschenwürdigere Welt. Vernunft ist eine Gottesgabe, ein Wahrnehmungsorgan für Gott und die Welt. Sie folgt den Spuren Gottes in der Welt, nüchtern, sachlich, selbstkritisch, um darin so skeptisch wie heiter Gott nahe zu kommen.

Ignatius von Loyola hat beispielhaft formuliert, was es bedeutet Gott durch die Vernunft zu erkennen, wenn er in der Betrachtung zur Erlangung der Liebe ausführt (ich sage es mit meinen Worten): Das erste in der Erwägung der Vernunft ist: Rufe dir ins Gedächtnis, was du an Gutem empfangen hast.

Das zweite: Betrachte, wie Gott in allem Lebendigen am Werke ist. Das dritte: Staune, wie sich alles fügt in diesem zerbrechlich-komplizierten Gefüge des Lebens, darin du stehst und dich deines Lebens freuen kannst, weil so vieles sprachlos geschieht, von dem her du lebst, vom Herzschlag über die Liebe deiner Mutter bis zur Wiederkehr von Sonne und Mond.

Und dann viertens (nun Originalton des Ignatius): „In sich aufnehmen, wie alles Gute und alle Gabe von oben herabsteigt, so wie auch die mir zugemessene Kraft von der höchsten und unendlichen von oben herabsteigt und so auch Gerechtigkeit, Güte, Pietät, Barmherzigkeit gleichwie die Strahlen von er Sonne absteigen, die Wasser von der Quelle und dann sich beschenkt verschenken: Nimm hin, Herr, und empfange meine ganze Freiheit, mein Gedächtnis, meinen Verstand und meinen Willen. Alles ist dein, verfüge nach deinem Willen, gib mir deine Liebe und Gnade. Das ist mir genug“

Wider den Geist der Rache

Filed under: Predigten — Dieter Koch @ 10:58

Predigt von Pfarrer Dr. Dieter Koch zu Römer 12,17f.20: Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht… Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem

„Erschlagt den Rathenau, die Judensau“, rief der Rachegeist der antijüdischen Propaganda einst über unser Volk aus. Die Tat folgte auf dem Fuß. Der hoch verdiente Minister der Weimarer Republik wurde von Rechtextremen erschossen.

„Erschlagt eure Offiziere und Generäle“, rief der sowjetische Befehlshaber Semjon Timoschenko beim Einmarsch der roten Armee in Polen 1940 den polnischen Soldaten entgegen. Sein Aufruf zum Klassenhass aber fand wenig Widerhall.

Eine unbändige Bereitschaft zu Rache und Vergeltung schlummert in den Menschen. Immer neu wird sie angestachelt, nicht immer findet sie Gehör und doch zieht sich eine Blutspur des Hasses und des Bösen durch die Geschichte. Man braucht nicht an Auschwitz und Katyn zu erinnern, es reicht zu sehen, wie der Hass durch die sozialen Medien heute wabbert, wie es zum neuen Volkssport geworden zu sein scheint, andere aufs Übelste zu verunglimpfen, zu denunzieren, zu bedrohen, ihnen die Pest aufs Haupt zu wünschen.

Aus dem bösen Wort wächst schnell die böse Tat. Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke wurde vor gut 1 Jahr auf der Terrasse seines Hauses von einem oder mehreren rechtsextremistisch gesinnten Tätern erschossen und Stuttgart erlebte erst vor zwei Wochen eine vorher für Stuttgart so unvorstellbare Nacht der Krawalle und der gezielten Angriffe auf die Polizei, wie man dies sonst nur mit der linken, autonomen Szene in anderen Großstädten bisher verband. Hass führte die Regie, Frust mag mit dabei gewesen sein.

Und selbst die Facebook-Seite unseres Ministerpräsidenten wurde für mehrere Tage abgeschaltet, weil der Pöbel mit wüstesten Drohungen über ihn herfiel. Der Anlass: eine Nichtigkeit. Für einen Augenblick saß er ohne Mundschutz im Flughafenbereich, um etwas zu essen, etwas zu lesen und dies bei weitem Abstand zu allen um ihn.

Der Geist der Rache vergiftet die Seele und zerstört jeden anständigen Umgang, Der Geist der Rache sucht Vergeltung und schürt damit immer neu die Flamme des Bösen. Die Bibel nennt es das Prinzip Lamech. Lamech, der Nachkomme Kains, des Brudermörders, brüstet sich vor seinen Frauen: Merkt auf, was ich sage. „Einen Mann erschlug ich für meine Wunde und einen Jüngling für meine Beule. Kain soll siebenmal gerächt werden, aber Lamech siebenundsiebzigmal“ (1.Mose 4,23f).

Diesem Affengeprotze gegenüber wirkst selbst das mosaische Gesetz: Auge um Auge, Zahn um Zahn, schon als Fortschritt, obgleich es die Klammer der Rache nicht aufsprengen kann. Und doch ist dieses: Aber dem will ich’s zeigen., dieses: Der soll mir dafür büßen, dieses: Den zieh ich vor den Kadi, was doch sagen will: Der soll mir dafür bluten und will sagen wirklich bluten, uns fest ins Herz geschrieben.

Friedrich Nietzsche, der Gottsucher und darüber zum Gotthasser geworden, weil er die menschliche Natur, das menschliche Elend angesichts dieser Blutspur, die der Mensch hinter sich herzieht, nicht länger ertragen konnte, stellt uns hierfür das Bild der Tarantel vor Augen. Er schreibt in seinem Werk „Also sprach Zarathustra“: „Da kommt sie willig: willkommen, Tarantel! Schwarz sitzt auf deinem Rücken dein Dreieck und Wahrzeichen, und ich weiß auch, was in deiner Seele sitzt. Rache sitzt in deiner Seele: wohin du beißest, da wächst schwarzer Schorf; mit Rache macht dein Gift die Seele drehend!… Rache wollen wir üben und Beschimpfung an allen, die uns nicht gleich sind – so geloben sich die Tarantel- Herzen… Vergrämter Dünkel, verhaltener Neid, vielleicht eurer Väter (eurer Mütter) Dünkel und Neid, aus euch bricht’s als Flamme heraus und Wahnsinn der Rache. Dies ist das Merkmal eurer Eifersucht -immer geht ihr zu weit… Aus jeder eurer Klagen tönt Rache, in jedem eurer Lobsprüche ist ein Wehetun; und Richtersein scheint euch Seligkeit“.

Da sind sie, die Giftspinnen des Alltags, böser Tratsch und falsch Zeugnis. Doch man vergesse über dem Splitter im Auge des Andern nicht den möglichen Balken vor dem eigenen Auge. Man verkenne nicht, wie sehr auch unser eigenes Leben in Gefahr steht mitzumachen beim bösen Tratsch und falschen Zeugnis. Man verkenne nicht die eigene Neigung zum Zorn, zu Träumen der Vergeltung und man bedenke immer, dass Rache und Vergeltung sich leicht in den Mantel der Gerechtigkeitsforderung kleiden.

Wenn uns der Zorn überkommt, so mögen wir uns noch entschuldigen, aber wenn wir uns gerecht wissen, wenn wir uns sicher sind, der guten Sache zu dienen, wenn wir gewiss sind: Also das darf nicht sein, das darf man nicht zulassen, so stehen wir schneller als wir denken im Sog der Vergeltung.

Wieviel Streit gibt es zwischen Nachbarn! Wieviel Streit gibt es selbst unter Eheleuten, nur weil der eine vor dem anderen nicht zugestehen kann, dass auch die als gerecht, als gut, als notwendig empfundene Sache vielleicht noch eine zweite Seite hat, dass der andere vielleicht auch in seiner Weise recht haben könnte, dass vielleicht die Frau auch einmal ein Recht darauf haben kann, einmal keinen Sport im Fernsehen schauen zu müssen, oder der Nachbar, dass seine Kinder im Hof spielen dürfen ,auch wenn es dann nicht grabesstill zu sein braucht, schließlich kommt das Grab früh genug. Es gibt bisweilen auch ein zuviel an Gerechtigkeit, wenn darunter das Zusammenleben erstirbt, wenn darunter der Mut zum immer neuen Miteinandersein erkaltet, wenn die Liebe unter den Eheleuten und die Freundlichkeit unter den Nachbarn in der Kälte der Rechthaberei erfriert.

Wir wissen das, und wir wissen auch: Es könnte anders sein, ja bisweilen ist es anders. Wir wissen es: Eigentlich möchte ich, dass es anders wird, dass wir alle im Frieden miteinander leben. Eigentlich weiß ich auch, dass ich auch was dafür tun muss, bisweilen auch etwas dulden, bisweilen vielleicht gar etwas runterschlucken, bisweilen etwas vergeben. Frieden kannst du nur haben, wenn du ihn gibst, schrieb einmal die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach. Wie recht hat sie: Frieden kannst du nur haben, wenn du ihn gibst.

Die Weisung des Neuen Testaments ist eindeutig: Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Rächt euch nicht selbst. Überwindet das Böse mit Gutem. Tut, was Frieden schafft. Unser Leben erstarrt in den Forderungen kalter Gerechtigkeit, mit der sich die Rache oft tarnt, unser Leben erblüht allein in der Güte. Unser Leben entscheidet sich daran, dass wir immer neu aufbrechen, Schranken zu überwinden, und auch dem Feind, so er hungert zu essen geben, so er dürstet, ihm zu trinken geben. Das Böse überwindet man am besten dadurch, dass man lernt füreinander einzustehen, dass man bereit ist, auch auf andere Stimmen zu hören, dass man seine Meinungen immer wieder auch läutert und überprüft, um aus dumpfen Vorurteilen auch herzauszufinden. Das Böse überwindet man am besten, wenn man freudig sich auf Gutes einstellt, wie sagt schon der König Salomo im Buch der Sprüche 12,20: Die Böses planen, haben Trug im Herzen; aber die zum Frieden raten, haben Freude

„Dass der Mensch erlöst werde von der Rache, das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern“, schreibt Friedrich Nietzsche. Er sagt in seinen Worten, was das Evangelium uns zeigt, wenn es unsere Augen und Herzen auf den Liebesdienst Jesu lenkt, auf seine Hingabe für die Schwachen, Kranken, Armen und Fremden. Der Weg aus den Fängen der Rache heißt, den Zeichen des Guten zu folgen. Der Geist der Rache kann nicht Fuß fassen, wo uns eine tiefe Liebe zum Leben ergreift, wo wir davon getragen sind, dass der Ewige uns als Kinder seines Lichtes will, lichtvoll den Nächsten begrüßend und mit ihm das Leben teilend – brüderlich, solidarisch, gütig.

  • Unser Werk ist einzig und allein die Güte. Lernen wir gütig zu sein, indem wir die Neigung zur Rache auch in uns selber wahrnehmen und sie Stufe um Stufe zu überwinden lernen. Es ist leicht zu hassen, aber es adelt uns zu lieben, mag es dann auch bisweilen schmerzen, dem Bösen im Guten zu widerstehen. Lernen wir die Rache zu überwinden, indem wir bereit werden, all das Gute zu schätzen, das uns widerfuhr: Liebe, Zärtlichkeit, Vergebung, Versöhnung – und dann mitbauen an der Welt des Friedens.

Hagar am Brunnen

Filed under: Predigten — Dieter Koch @ 07:35

Predigt zur Jahreslosung 2023 1.1.2023 Ev. Kirche Beinstein

„Du bist ein Gott, der mich sieht“ (1.Mose 16,13).

Dieses Wort uns als Jahreslosung anvertraut, stammt aus einer uralten Geschichte. Sie handelt von Hagar, Sara und Abraham. Zwei Frauen stehen im Mittelpunkt, beide werden sie die Mütter zweier großer Söhne werden, Isaak und Ismael. beide werden sie die Urahninnen großer Völker sein, Israel und die arabischen Stämme. Sie sind vereint und getrennt zugleich um Abrahams wegen, ihrem Mann und ihrem Herrn. Abscheu wächst zwischen Ihnen, doch ein Bote weist Hagar den Weg, 3 Boten werden Sara das Lachen wiederbringen.

Da ist ein Gott, der sie sieht, der auf sie schaut, der ihnen nachgeht – und überraschend geht jeder von ihnen eine Tür ins Leben auf. Sara, weit vorangeschritten wird überraschend doch noch Mutter werden. Isaak wird ihr Augenstern sein und Hagar? Wie steht es um sie, der an einem Brunnen mitten in der Wüste ein Licht aufgeht. Eine innere Gewissheit überkommt sie, ein unerwartetes Geschenk, das ihr die Zukunft öffnet: Gott wird sie in ihr eigenes Leben führen, weg von Sara, Ismael wird ihr Augenspiel sein, ein Held, ein jugendlicher Draufgänger, ein Bogenschütze, dem Wildesel gleich, schlicht ein Kerl, der`s draufhat, ihr Sohn. Immer, wenn sie später an diesen Brunnen denkt irgendwo zwischen Kadesch und Bered,,tief im Südland, wo die Steppe Kilometer um Kilometer weiter in die Wüste übergeht, dann ist ihr alles wieder wie damals: Du bist ein Gott, der nach mir sah, der nach mir sieht, in dessen Blick ich auch in die kommenden Zeiten gehen darf.

Wie alles begann? So schlicht und klar lautet der Satz: Ein Mann schlief mit einer Frau und sie wurde schwanger. Der Mann hier ist Abraham, auch nicht mehr der Jüngste, die Frau Hagar. Sie ist die Magd Saras, seiner anvertrauten, legitimen Frau. Er schläft mit Hagar. Hat die Lust ihn überkommen? Hat er sie einfach genommen? Wollte sie auch oder ließ es nur geschehen? War da Liebe im Spiel oder nur Trieb? Hagar aber wird schwanger. Jetzt hat sie ihn in der Hand, jetzt steigt sie bei ihm auf, jetzt gehört ihr die Rolle an Abrahams Seite. Sara, ich bin die Seine, du hast ausgedient. Alte Männer, junge Dinger mag man denken. Kommt gar nicht so selten vor. Und so spannt sie sich weit auf und will vor aller Welt ihn – Sara ciao!

Doch eines weiß sie nicht: Sara hatte alles eingefädelt, Abraham heiß gemacht auf Hagar. Sara hatte alles durchgeplant, denn ihr Ziel heißt: Er wird mir mit ihr ein Kind machen Endlich werde ich ein Kind in meinen Armen wiegen. Dieses Kind gehört mir allein. Hagar ist nur eine Magd, gebraucht, missbraucht als Leihmutter. Wenn da Gefühle mit hineinkommen sollten, dann müssen diese schnell ausradiert werden. Sara sieht auf Hagar: Mit der können wir es machen. Hagar sieht auf Sara. Die Alte, die werd ich ausstechen und Abraham? Er sieht auf beide, beide sind ihm recht.

Nur alle drei sehen nicht, noch nicht, den, der aus so viel Menschen Gebandel und Gehändel etwas Neues werden lässt, der auf den krummen Linien menschlicher Gefühlskomödien und -tragödien gerade schreibt. Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf, Doch ich will sie nicht schlagen, sondern retten, und wenn ich sie richte, dann um sie aufzurichten, heißt es Kapitel zuvor (8,21) und am Ende dieses großen Erzählwerks, das wir die Genesis nennen oder das 1. Buch Mose hören wir einen Nachfahren Abrahams, Isaaks und Jakobs, den klugen und weisen Joseph zu seinen Brüdern sagen: Ihr gedachtet es böse zu machen, Gott gedachte es gut zu machen (50,20).

Da sind sie auch hier, die bösen Gedanken, die falschen Gefühlen, Ränke und Intrigen. Was Sara und Hagar verbindet und zugleich trennt, ist ihre zerstörerische Rivalität um Abraham. Doch Sara sieht Recht und Herkommen auf ihrer Seite. Was sie sich ausgedacht hat, war, so falsch es war, zugleich rechtlich abgefedert damals und so gelingt es ihr mit allem Anstand ihrer „Ehrenstellung“ Hagar, wie die ob ihrer Schwangerschaft aufzutrumpfen beginnt, recht, regelgerecht zu kujonieren. Sie mobbt sie, sie piesackt sie, sie verhöhnt sie, sie macht sie die Magd zur Sklavin ihres Tuns. Hagar, weil Abraham, wie beim Sex so auch jetzt beim Abservieren der Hagar gehorsamst mitmacht (schließlich so könnte es ihn dünken, komme er so ganz und gut aus der Sache: Ein Mann schläft mit einer Frau und die Gott sei’s geklagt wird auch noch schwanger) hat keine Wahl mehr: Sie muss fort, fliehen muss, sie, soweit auch nur ihre Füße sie tragen. Da wird eine ausgespien, an der man seine Lust hatte, weil das Spiel irgendwie doch nicht glatt lief. Da wird eine ausgetrieben, ohne dass man ihr ausdrücklich Haus und Hof versagen muss. So begegnet sie uns nun, in das Schicksal einer Alleinerziehenden gehend, mitten in Wüstengegenden an einem einsamen Brunnen.  Wasser gibt es hier, Wasser des Lebens, dazu kommt das Wort des Lebens. Ein Bote spricht sie an Woher? Wohin? Der Bote wird ihr Schutzengel und Hoffnungshorizont. Er sieht die Frau in ihrer Not, öffnet sie für eine noch unbekannte Zukunft. Hagar, du wirst leben und dein Kind wird groß werden, stark, einer, der es mit jedem aufnimmt. Eine Gedemütigte wird aufgerichtet. Gott sieht die, die zerschlagenen Herzens sind und ersieht ihnen neues Leben. Gesehen werden, Angesehen werden, Angesehen sein – Einander neu sehen: Du bist ein Gott, der mich sieht, der nach mir schaut. Ich beginne auf dich zu schauen, der Du auf mich schaust, Gott des Lebens, allmächtig, barmherzig, geduldig und von großer Güte.

Es sind Augengeschichten, die unser Leben wesentlich prägen. Wer sieht wie auf mich? Gütig oder böse, wohlwollend oder gierig? Wer frisst mich mit seinen Augen? Wer schenkt mir ein Augenlächeln? Schaut denn überhaupt einer nach mir, liebend, fürsorglich, zugewandt oder gibt es nur die kalten Blicke gegeneinander wie in Ernest Hemingways Meistererzählung „Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber“. Er schildert ein von übergroßem Reichtum gezeichnetes Ehepaar, dessen Verbindung von Grund auf haltlos und lieblos ist. Diese Geschichte ist ein großes Augenspiel. Aber es sind Augen, die den andern herabsetzen, und verraten. Die harten, erniedrigenden Augen der Frau sind von einem Geist der Berechnung bestimmt, dass es einem den Atem raubt. Francis Macomber wird immer aufs Neue von diesen Augen getrieben, sich zu beweisen, sich als Held darzustellen, und wird doch gnadenlos abgestraft. Er wusste nicht, was seine Frau empfand, als er auf der Safari, zu der sie beide in Afrika waren, an einem Löwen scheiterte. Er wusste nur, dass er für sie erledigt war. Er war schon häufiger für seine Frau erledigt gewesen. Diese Frau zögert nicht, ihn noch in der Nacht zu betrügen und konfrontiert ihn schonungslos mit seinem Versagen. Am nächsten Tag, abgrundtief aufgereizt, sucht er sich zu rächen, sich an einem Büffel zu bewähren. Trotziger Wagemut überkommt ihn, eine betörende Furchtlosigkeit, mit der er der Angst vor dieser Frau, der Angst vor ihren Augen zu entkommen sucht. Er trifft auf Büffel, er schießt, es scheint gut zu gehen, aber der erste Büffel ist nur angeschossen. Immer im Augenschein dieser kalten Frau gilt es den Büffel ganz zu erledigen. Er folgt ihm ins Unterholz, schaut dem Tier in die Augen, das in tierhafter Wut ihm entgegenrast. Schießt und schießt auf den näherkommenden Kopf, sieht die kleinen, bösartigen Augen, schießt und fühlt einen plötzlichen, weißglühenden, blendenden Blitz in seinem Kopf explodieren – und das war alles, was er noch fühlte. Macomber erstarrt zunehmend unter dem entwertenden Blick seiner Frau. Seines Zutrauens beraubt, scheitert er und stirbt im Ansturm des Büffels.

Welche Geschichten setzen wird dagegen, Geschichten von Gottes Spuren mitten in unserem Leben?

Wie gut, wenn ein liebendes Auge uns trifft und aufrichtet, wenn uns ein Lächeln beglückt, und sich die Tore auftun, in eine Welt, in die hinein es sich zu gehen lohnt, eine Welt, in die mir mit Freude treten, weil wir einander zu spüren geben: „Es gibt dich, weil Augen dich wollen, dich ansehen und sagen, dass es dich gibt.“ (Hilde Domin) Es gibt dich, weil Gottes Augen dich wollen, dich ansehen und sagen, dass es dich gibt. Sei mir ein Gott, der mich sieht!

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