Religion heute

23. Dezember 2023

Richtet nicht, die ihr von der göttlichen Gnade berührt seid

Filed under: Predigten — Dieter Koch @ 11:19

Predigt von Pfarrer Dr. Dieter Koch für den 3.Advent, den 12.12.2021 zu 1. Korinther 4,1-5

Richtet nicht! Richtet nicht vor der Zeit! Bleibt Menschen, die von der göttlichen Güte berührt einander barmherzig und vernünftig das Leben erschließen

Liebe Gemeinde, die gehörten Worte klingen in unseren Ohren nach: Richtet nicht! Richtet nicht vor der Zeit. Aber bleibt treu in eurem Werk, bleibt Menschen, die von der göttlichen Güte berührt einander barmherzig und vernünftig das Leben erschließen.

Richtet nicht! Richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt. Er allein wird ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, was sich unserem Durchblick und unserer Einsicht entzieht. All unser Wissen, all unser Urteilen, ist und bleibt Stückwerk. Was uns als richtig erscheint, wie wir meinen, das Leben ordnen zu müssen, all unser Entscheiden, ist zutiefst vorläufig, fragmentarisch, der Veränderung bedürftig. Sind wir uns dessen wirklich bewusst? Wie stellen wir uns darauf ein, ohne uns einfach nur der Nichtigkeit von allem zu überlassen?

  1. Eine Legende:  Die Schaulustigen und der Elefant

Eine Legende geht durch die Zeiten: „Man hatte einen Elefanten zur Ausstellung bei Nacht in einen dunklen Raum gebracht. Die Menschen strömten in Scharen herbei. Da es dunkel war, konnten die Besucher den Elefanten nicht sehen, und so versuchten sie, seine Gestalt durch Betasten zu erfassen. Da der Elefant groß war, konnte jeder Besucher nur einen Teil des Tieres greifen und es nach seinem Tastbefund beschreiben. Einer der Besucher, der ein Bein des Elefanten erwischt hatte, erklärte, dass der Elefant wie eine starke Säule sei; ein zweiter, der die Stoßzähne berührte, beschrieb den Elefanten als spitzen Gegenstand; ein dritter, der das Ohr des Tieres ergriff, meinte, er sei einem Fächer nicht unähnlich; der vierte, der über den Rücken des Elefanten strich, behauptete, dass der Elefant so gerade und flach sei wie eine Liege“ (zitiert nach N. Peseschkian, Der Kaufmann und der Papagei, Frankfurt 1979, S.73f).

Vier Blickweisen auf den Elefanten werden erzählt, Vier Perspektiven, das Leben zu sehen, stehen nebeneinander. Stehen sie auch gegeneinander? Prallen die Urteile aufeinander oder gibt es einen Geist, eine Kultur, eine Umgangsform, mit diesen verschiedenen Entdeckungen geschwisterlich umzugehen, sie stehen zu lassen, sie einander bereichern zu lassen? Wir wissen, alle haben etwas Wahres an diesem Elefanten entdeckt. Aber wissen sie es auch und könnten sie ihre ersten Beschreibungen und Urteile sich gegenseitig überlappen lassen? Ja, aber nur, wenn sie sich ihrer bruchstückhaften Zugangsweisen zu diesem unbekannten Objekt, Elefant genannt, bewusst wären.

Das Problem: Wir schauen von außen darauf. Wir sehen, als die, die den Durchblick haben, dass es ein Elefant ist. Wir könnten uns einbilden, alle vier Perspektiven miteinander ins Gespräch, miteinander ins Lot zu bringen, weil klar ist, wo sie jeweils wahr und wo sie jeweils falsch sind. Aber ist das so einfach möglich? Was wissen wir denn tatsächlich über die Wirklichkeit und das, was die Welt im Innersten zusammenhält?

  1. Eine akademische Lehrstunde über die intellektuelle Geduld

Da möchte ich mir erlauben, Sie in eine einzigartige Stunde der akademischen Welt mitzunehmen, an der ich als junger Student Anteil haben durfte: Man schrieb den 13.5.1982. Die Universität Tübingen hatte zur Verleihung des Leopold-Lucas-Preises an Karl Rahner geladen. Alles war bestens vorbereitet und festlich inszeniert. Da trat der Preisträger ans Mikrofon und schon mit den ersten Sätzen versetzte Karl Rahner den Kanzler der Universität wie die ganze zahlreich erschienene Professorenschar in Erstaunen und Erschrecken. Denn ein Abgrund tat sich auf: Karl Rahner stellt seine Zuhörer, auch uns Studenten, die wir in der letzten Reihe Zutritt bekommen hatten, vor die ungeheure Explosion des Wissens in den letzten Jahrzehnten. Der Vortrieb der Wissenschaften ist so immens, dass es gänzlich unmöglich geworden ist, all die unterschiedlichsten Erkenntnisfortschritte noch irgendwie zusammenbinden zu können. Karl Rahner führte aus: „Gemessen an der einer bestimmten Zeit grundsätzlich zur Verfügung stehenden Menge des Wissens wird der einzelne heute immer dümmer. Früher wusste man verhältnismäßig wenig, aber davon konnte einer als einzelner fast alles wissen. Heute weiß man sehr viel und jeder einzelne davon nur einen winzigen Teil“ (zitiert nach E.Jüngel/ K.Rahner, Über die Geduld, Freiburg 1983, S.46). Rahner forderte die Klugen dieser Erde auf, sich dies einzugestehen und bewusst damit leben zu lernen. Denn „die weisen Dummen, die wir hoffentlich sind, erfahren den bitteren Schmerz ihrer Dummheit und müssen sie darum in Geduld ertragen lernen“ (ebd., 53). Wer ist weise genug? Wer kann urteilen über was, über wen, nach welchem Maß? Intellektuelle Geduld tut not und die Kunst, bescheiden und doch leidenschaftlich um das gemeinsame Gut gelingenden Lebens zu ringen.

Die akademische Sternstunde von einst ist verglüht. Die kluge Diagnose und der weise Rat Karl Rahners ist verhallt. Was viele heute erleben und wirklich schmerzt, sind dafür die immer neuen Wellen der Rechthaberei, die unser Land durchziehen. Die Wirklichkeit wird zurecht gebastelt, wie es einem gerade passt. Andere Sichtweisen werden verunglimpft- Sich der Beschränktheit seiner Einsicht bewusst zu sein, wird nicht ausgehalten. Der Beitrag der Wissenschaften wird lächerlich gemacht. Intellektuelle Geduld, eine Kultur der Fehlbarkeit, eine Zurücknahme des Richtgeistes, sie sind mehr gefragt denn je!

  1. Paulus in Korinth wider die Sophisten in Glaubensdingen

In dieser Situation hören wir die Worte des Apostels Paulus, neu hellhörig geworden., Da ist einer, der den Richtgeist in seine Schranken weist. Was war geschehen? Vom Geist Berührte meinten, in die volle Erkenntnis Gottes vorgedrungen zu sein.  Sie erhoben den Anspruch, dass sie allein über den vollen Durchblick der himmlischen Welten verfügten. Meinungen prallten aufeinander. Ein Glaubenskrieg stand im Raum. Wer hat die alleinige Lehrgewalt über die rechte Auslegung der Worte des Herrn? Da schreitet Paulus ein und macht klar: Nicht du, nicht ich sind die Meister des Evangeliums. Wir alle sind Schülerinnen und Schüler des großen Lehrers. Wir empfangen und wir teilen, was uns zum Wort des Lebens wird. Aber wir verfügen nicht darüber. Allein Christus selbst kann uns in die volle Erkenntnis führen am Tag seiner Wiederkunft. Jetzt können wir nur – und das gerade ist gut – Hörer des Wortes sein und treue Vermittler dessen, wo und wie uns das Evangelium zum Licht des Lebens wird. Wir sind auf Entdeckungsreise. Ein jeder schöpft aus Jesu Werk. Trost kommt und geht. Wahres leuchtet auf und wird wieder verdeckt. Versucht bei aufbrechendem Widerspruch euch klar zu machen: „Wir erkennen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; einst aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen wie ich erkannt bin“ (1. Korinther 13,12).  Du lachst Apollos? Auch du erkennst nur stückweise. Was uns allen bleibt, was uns alle verbindet, ist unterwegs zu bleiben, gemeinsam unserem Vertrauen in Gott, unserer Bereitschaft zur geschwisterlichen Liebe Raum zu lassen, einander das Hoffnungslicht nicht zu verweigern. Darum die überaus scharfe apostolische Weisung gegen die allzu Klugen in Korinth: Keiner richte vor der Stunde der Vollendung. Keiner von uns setze sich auf den Richterstuhl Christi. Angesichts seines Urteils sind und bleiben alle unsere Urteile im wahrsten Sinne des Worts Vor-Urteile. Keiner rühme sich vor Gott. Keiner täusche sich über sich selbst. Keiner erhebe sich über den anderen. Seid vielmehr Bannerträger der göttlichen Herrlichkeit, die sich euch schenkt, bruchstückhaft hier, in der Stunde der Vollendung ganz. Was soll dann all das Richten, all das einander zersetzende Reden, Tratschen, Abwatschen, Beleidigen und Argwöhnen? Gewissenhaftigkeit zählt, auch in Glaubensdingen, aber nicht das oft so kleingeistige, erst innere, dann aber auch gewaltig nach außen tretende Aburteilen Anderer. Rechenschaft werden wir nur IHM zu geben haben, unserem Heiland Jesus Christus. Was aber heißt es dann, in seinem Urteil zu stehen? Was, dass uns Lob dargereicht wird von Gott?

Vor allem: Kennen wir uns denn selbst? Wissen wir hinreichend über unsere Motive und untergründigen Gedanken Bescheid? Was Paulus den Korinthern zumutete und uns zum Nachdenken aufträgt, ist, dass er nicht nur das Urteilen und Richten anderer stark in seine Schranken weißt, sondern, dass auch er, Paulus selbst, sich in der Tiefe seines Wesens entzogen ist, dass er seine Handlungsgründe nicht völlig durchschauen kann, niemand dies kann. Selbst das Gewissenszeugnis ist trügerisch und so ist all unser Wissen, Entscheiden und Urteilen zutiefst vorläufig, fragmentarisch, der Veränderung bedürftig.

  1. Was zählt!

Gott allein durchschaut die Herzen. Sein Geist aber wohnt uns ein. Lob kommt uns von ihm entgegen.  Inmitten der zugemuteten Ernüchterung, dass unser Wissen Stückwerk bleibt, klopft eine Hoffnung an, die tröstet, beglückt, aufatmen lässt. Richtet nicht! Bleibt Menschen, die von der göttlichen Güte berührt einander barmherzig und vernünftig das Leben erschließen.

Die Predigt basiert auf der vom selben Verfasser vorgelegten Predigtmeditation in der Zeitschrift „Für Arbeit und Besinnung“ 21/2021

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